Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichten und Versammlung sind die sechs Phasen der Ausbildung, welche die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) als Grundlage für gutes Reiten benennt. Ihre Ursprünge liegen in Richtlinien, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden.
Nun geht es ans Eingemachte. Die Grundlagen wurden vermittelt, mit dem Geraderichten steht der vorletzte Punkt der Skala im Fokus. Beidseitig geschmeidig und gerade soll sich das Pferd bewegen, so erklärt es die FN. Doch jedes Pferd hat eine natürliche Schiefe. Wir werfen mit Experten einen Blick auf die Finessen beim Geraderichten und nähern uns nun bereits mit großen Schritten der Vollendung der Grundausbildung des jungen Pferdes.
Grundlegendes zum Geraderichten
Wie alle sechs Punkte der Skala der Ausbildung ist auch die Geraderichtung ein maßgeblicher Faktor bei der Entwicklung des Gleichgewichtes. Zusätzlich wirkt sie sich zusammen mit Anlehnung, Schwung und der nachfolgenden Versammlung auf die Entwicklung der Durchlässigkeit aus. Die FN führt in ihren „Richtlinien für Reiten und Fahren“ aus: „Die Geraderichtung wird definiert als Prozess, der darauf ausgerichtet ist, sowohl auf gerader als auch auf gebogener Linie die Anpassung der Körperlängsachse des Pferdes und der Fußung der Vorder- und Hinterhufe auf einer Hufschlaglinie zu erreichen. Dieser Prozess führt zur Entwicklung einer beidseitig gleichmäßigen Muskulatur.“
Kein Pferd ist symmetrisch
Von Natur aus ist kein Pferd komplett symmetrisch ausgerichtet. Die Ausprägung der sogenannten „natürlichen Schiefe“ kann von Geburt an unterschiedlich sein. Das Ziel bei der Geraderichtung ist es, jene natürliche Schiefe auszugleichen und beide Seiten des Pferdes gleichermaßen „geschmeidig zu gymnastizieren“, wie es bei der FN heißt. Olympiasiegerin und Reitmeisterin Ingrid Klimke betont, dass fast alle Pferde am Anfang ihrer Ausbildung damit Schwierigkeiten haben, geradeaus zu gehen.
Das ist nicht anders als beim Menschen, wo es eben Rechts- und Linkshänder gibt. Eine Seite ist auch beim Pferd stärker ausgeprägt. „Die meisten Pferde sind von hinten rechts nach vorne links schief “, erklärt Klimke. „Das bedeutet, dass der rechte Hinterfuß nicht in die Spur des rechten Vorderhufes tritt. Er tritt stattdessen rechts daneben, wie man sehr schön sehen kann, wenn man einmal die Hufspuren im Sand betrachtet.“ Mit dem rechten Hinterbein sind Pferde daher nicht in gleichem Maße fähig, Schub zu entwickeln wie mit dem linken Hinterbein. Das linke Vorderbein wird durch diese Tatsache deutlich mehr belastet. Dies gilt es, über die Zeit der Ausbildung hinweg so gut wie möglich auszugleichen.

In freier Natur zeigt sich besonders deutlich: Jedes Pferd hat eine natürliche Schiefe. (© Faba-Photograhpy)
Nun könnte manch einer meinen, dass dies alles ja halb so schlimm sei und es sich wie mit den Rechts- und Linkshändern verhält. Dabei gibt es aber ein entscheidendes Problem. Die Schiefe beeinflusst den kompletten Bewegungsapparat und Pferdekörper. Daher muss immer das Ziel sein, sie so weit wie möglich auszugleichen. „Die gleichmäßige Belastung aller Beine ist für die Erhaltung der Gesundheit und die Qualität der Lektionen unerlässlich“, so Klimke weiter. Denn wird nur eine Seite belastet, wird dies langfristig Muskeln, Bändern, Sehnen und Gelenken schaden. Dem vorzeitigen Verschleiß bestimmter Körperpartien kann durch die gleichmäßige Belastung effektiv vorgebeugt werden.
Geraderichten bedeutet richtig ausrichten
Das Ziel muss immer sein, dass das Pferd sich sowohl auf der geraden als auch auf der gebogenen Linie ausbalanciert mit Hinter- und Vorhand auf einer Spur bewegt. Man kann auch sagen, dass es sich „hufschlagdeckend“ bewegt. Ingrid Klimke merkt an, dass es vor allem darauf ankommt, die Rippenpartien auf beiden Seiten durch entsprechendes Training gleichmäßig geschmeidig zu halten und die Muskelpartien auf beiden Seiten gleichmäßig auszubilden. „Die beiden Hinterbeine sollten schließlich auf der gleichen Linie fußen wie die gleichseitigen Vorderbeine“, so die Europameisterin des Jahres 2019.
All dies muss man sich als Prozess über eine lange Zeit hinweg vorstellen. Es gelingt bei kaum einem Pferd, einen solchen „vollkommenen“ Zustand zu erreichen. Ziel muss immer sein, so nah wie möglich heranzukommen. Ausbilderin Uta Gräf betont, dass es nicht die Lösung sein kann, das Pferd durch Dauereinwirkung in die richtige Position zu bringen. Das habe dann nichts mehr mit dem „mühelosen Reiten“ zu tun, das eigentlich immer das Ziel sein sollte.
Man sollte während der Ausbildung des jungen Pferdes immer zum Ziel haben, dass man den körperlichen Einsatz weiter zurückfahren kann. Das gelingt durch die stetige Gymnastizierung des Pferdes. – Uta Gräf –
Geraderichtung ist nichts, was man irgendwann erlernt hat, betont auch sie. Es ist ein Prozess, den man nie abhaken kann.
Langsam herantasten
Es ist wichtig, im Training zunächst mit der für das Pferd leichteren Seite zu beginnen, betonen alle Experten. „Mit der Gymnastizierung auf der schwierigeren Seite des Pferdes sollte man es keinesfalls übertreiben“, betont Uta Gräf. „Vor allem am Anfang muss man sehr vorsichtig vorgehen, da es dem Pferd entsprechend schwerfallen wird. Durch eine zu intensive Beanspruchung würde es nur überbeansprucht und dementsprechend überfordert und demotiviert sein.“
Sinnvoll ist ein langsames Herantasten an einen optimaleren Zustand. Uta Gräf rät, dass das „Schultervor“ eine gute Übung ist, um das Pferd geradezurichten. „Um das Pferd dabei nicht dauernd zu treiben, nehme ich die Hilfen zurück und warte ab. Geht das Schultervor verloren, führe ich das Pferd wieder zurück und nehme danach erneut die Hilfen zurück.“ Auch hier beginnt sie mit der leichteren Hand und geht dann zur schwereren Hand über. Das sollte bei allen Übungen der Weg zum Ziel sein.
Uta Gräf betont, dass der Reiter immer darauf achten sollte, den eigenen Sitz auf mögliche Schiefe zu prüfen und zu korrigieren. „Dazu ist ein Spiegel in der Halle natürlich die beste Möglichkeit“, so die Dressurreiterin und Ausbilderin. „Mit Hilfe des Spiegels ist es auch gut möglich, die Schiefe des Pferdes zu beobachten und zu ermitteln, ob Vor- und Hinterhand auf demselben Hufschlag gehen.“ Übergänge und Tempounterschiede können hierbei als Krafttraining für beide Körperseiten nützlich sein, betont sie. „Auch das Reiten auf gebogener Linie ist ein Klassiker zum Erarbeiten und Erhalten der Geraderichtung des Pferdes. Dabei muss vermieden werden, dass das Pferd über die Schulter nach außen ausweicht und die Hinterhand ,ausfällt‘.“
Übung macht den Meister – auch beim Geraderichten!
Gräf betont, dass es beim Erarbeiten der Geraderichtung auch viel ums Ausprobieren geht. „Man kann beispielsweise eine Volte reiten und dabei darauf achten, dass das Pferd hufschlagdeckend fußt. Oder aber man reitet auf dem zweiten Hufschlag bzw. auf der Mittellinie, um zu prüfen, ob das Pferd gerade bleibt. Möglichkeiten gibt es viele. Ich empfehle auch immer, Schenkelweichen oder Schulterherein nur fünf Meter zu reiten, dann geradeaus zu reiten und dann wieder fünf Meter Schenkelweichen oder Schulterherein. All das trägt langfristig zur Geraderichtung bei.“
Wenn die Hinterhand nach außen ausfällt, rät Uta Gräf zum Reiten von Travers, wenn die Hinterhand nach innen ausweicht zu Schultervor bzw. Schulterherein. „So wird das seitliche Gleichgewicht gefördert, und beide Seiten werden gleichmäßig gymnastiziert.“ Das Ziel ist die optimale Wirkung der Schubkraft des Pferdes in Richtung seines Schwerpunktes. Auch die verhaltenden Hilfen können über das Pferdemaul, Genick, den Hals und Rücken nur optimal bis zur Hinterhand durchdringen und auf beide Hinterbeine wirken, wenn die Geraderichtung so gut wie möglich erreicht wurde.
Geraderichtung: Auch für Springpferde relevant
Die Geraderichtung ist für jede Disziplin im Reitsport gleichermaßen relevant. Experten betonen, dass auch jedes Freizeitpferd die grundlegende Skala der Ausbildung beherrschen sollte. Nur so können langfristig Störungen in der Kommunikation zwischen Reiter und Pferd sowie Erkrankungen an Muskulatur und Bewegungsapparat vermieden werden.
Wie wichtig die Geraderichtung auch für Springpferde ist, erklärt Marcel Tummes, der für den Bereich Springen an der Landes-Reit- und Fahrschule Rheinland verantwortlich ist: „Zu den ersten vier Punkten der Skala kommt etwas später die Geraderichtung. Sie ist im Parcours von besonders hoher Bedeutung, was für den Reiter spätestens beim Reiten von Kombinationen erkennbar wird. Ohne Geraderichtung wird ein Pferd dort immer zur Seite driften und dadurch möglicherweise den nächsten Sprung nicht bewältigen können.“
Die Reitausbildung immer der Reihe nach
Allerdings merkt er auch an, dass die richtige Reihenfolge bei der Ausbildung eingehalten werden muss. Wichtig sei es zunächst, sein Pferd im Takt, losgelassen und in Anlehnung schwungvoll nach vorne reiten zu können. „Schon der alte Reitmeister Gustav Steinbrecht merkte an, dass vorwärts vor seitwärts kommt“, betont Tummes. „Aber das bedeutet natürlich nicht, dass man die Geraderichtung außer Acht lassen kann. Im Gegenteil, man sieht in Parcours – auch in den höheren Klassen – immer wieder Pferde, die seitlich abdriften und dann am Hindernis vorbeilaufen.“
Mit Cavaletti gymnastizieren
Springgymnastik ist daher das A und O, um die Geraderichtung zu verbessern. Dem stimmt auch Ingrid Klimke zu. „Ich nutze beispielsweise sehr gerne eine Übung mit Cavaletti mit dem Namen Acht auf dem Zirkel. Zweimal vier Cavaletti auf dem Zirkel werden aufgebaut und können in Sachen Geschmeidigkeit, Verbesserung der Geraderichtung, Stellen und Biegung des Pferdes sowie hinsichtlich der Durchlässigkeit unheimlich viel bewirken. Der Reiter trabt in dieser Übung auf zwei gleich großen Volten und wechselt nach jeder Volte die Hand. Ziel ist, dass beide Zirkelhälften exakt gleich groß geritten werden und das Pferd sich gleichermaßen gut stellen und biegen lässt.“

Auf gerader Linie wird es schnell mal schief – üben, üben, üben ist angesagt. Und auch fürs Springen ist das Geraderichten wichtig, sonst driftet man schnell mal aus einer Kombination. (© Christiane Slawik)
Durch den Slalom
Ingrid Klimke rät, dass zur Erarbeitung der Geraderichtung stets „Zirkel, Schlangenlinien und Volten“ eingebaut werden sollten – gerne auch mit Hilfsmitteln wie Cavaletti. Dass auch Freizeitpferde enorm von Übungen in Sachen Geraderichten profitieren können, betont Ausbilderin Angelika Graf. Sie gehört zu den deutschen Pionieren der Doma Vaquera und der Disziplin Working Equitation. Für die Schulung der Geraderichtung empfiehlt Graf, einen Parallel-Slalom aufzubauen:
„Fünf oder sieben Slalomstangen werden in zwei parallel zueinander liegenden Reihen aufgestellt. Im Einstiegstraining ist empfehlenswert, einen Abstand der Stangen von 10 bis 15 Metern zu wählen. Die Übung, die auch als Trailhindernis in Working Equitation genutzt wird, steigert neben der Geschicklichkeit von Pferd und Reiter auch die Flexibilität beider und entwickelt einen guten Bewegungsrhythmus. Es ist eine ganz hervorragende Schulung für das Zentrieren und das Geraderichten bei Pferd und Reiter.“
Dressurreiterin Uta Gräf betont einmal mehr, dass die Punkte der Skala der Ausbildung nicht nur stur auf dem Reitplatz oder in der Halle trainiert werden sollten, sondern dass man auch das Gelände dafür bestens nutzen kann. Dies gilt natürlich auch für das Geraderichten. Denn im Gelände mit seinem unwegsameren Boden wird das Pferd noch zusätzlich geschult. „Ich empfehle dort häufige Handwechsel, etwa Rechts- und Linksgalopp bzw. den Fußwechsel beim Leichttraben. Das Pferd sucht besonders beim nicht so geraden Boden im Gelände bevorzugt seine leichtere Seite. Allerdings ist das natürlich nicht gewollt. Beide Seiten werden durch solche Übungen im Gelände belastet und so wirklich gut gymnastiziert.“
In Sachen Geraderichten auch an sich selbst arbeiten
Die Profis betonen, dass auch der Reiter stetig an sich arbeiten sollte. Denn wenn der Reiter keine korrekte Haltung auf dem Pferd hat, wird auch das Erarbeiten der Geraderichtung ungleich schwerer fallen. Auch der Reiter lässt sich allzu gern in die Richtung fallen, die ohnehin auch die schwächere Seite des Pferdes ist. Er geht praktisch mit dessen natürlicher Schiefe mit, sodass der Ausgleich noch schwerer gelingt.
Für den Reiter eignen sich Übungen zur Stabilisierung von Rumpf- und Rückenmuskulatur. Dabei kann auch mit Franklin-Bällen oder der Blackroll gearbeitet werden, welche von Eckart Meyners in seiner Bewegungslehre immer wieder empfohlen werden. Es geht aber auch ohne derartige Hilfsmittel mit einfachen Übungen zur Rumpfstabilisierung. Zu diesen gehören etwa der Vierfüßerstand, bei dem immer jeweils der entgegengesetzte Arm und Bein gestreckt werden, oder auch die Planken, bei denen der Übende zunächst einen Unterarmstütz mit gebeugten Ellenbogen ausführt und dann jeweils ein Bein minimal vom Boden in die Luft ausgestreckt wird. Diese und viele weitere Übungen kann man sich bei YouTube und Co. ansehen und dabei sofort mitturnen. Auch Apps wie „7 Minuten Fitness“ regen zum täglichen Training an.
Denn am Ende ist das Geraderichten – wie auch alle anderen Punkte der Skala der Ausbildung – Teamwork von Reiter und Pferd gemeinsam, bei dem beide Seiten immer wieder an sich arbeiten müssen. Schließlich ist die Geraderichtung auch schon ein Schritt hin zum letzten Punkt der Skala der Ausbildung, der Versammlung. Neben den gesundheitlichen bereits genannten Faktoren dient sie dazu, dass die Schubkraft, die bereits vorab mit dem Schwung entwickelt wurde, auf beiden Seiten optimiert wird, zum sicheren und gleichmäßigen Herantreten an den Zügel und einer optimaleren Durchlässigkeit. So steht dem nächsten Schritt nichts mehr im Wege.