Wir alle kennen sie: Pferde, die „nicht mitmachen“. Pferde, die buckeln, stehen bleiben, gegen den Schenkel gehen oder sich dem Zügel entziehen. Doch was wäre, wenn diese Pferde gar nicht „stur“, „frech“ oder „verhaltensauffällig“ wären, sondern schlichtweg hilfesuchend?
Obwohl Lahmheit eines der häufigsten Probleme bei Sportpferden ist, gibt es auch Tiere, die sich nicht mit offensichtlicher Lahmheit, sondern mit Leistungs- oder Verhaltensproblemen zeigen. Verhaltensprobleme bei Pferden können sich in Schreckhaftigkeit, Gurtzwang, Steifheit, Unregelmäßigkeiten im Zügelkontakt, mangelndem Vorwärtsdrang oder sogar in schwerwiegenderen Problemen wie Buckeln oder Steigen äußern.
Diese Pferde werden häufig als „unartig“ abgestempelt. Die Tierärztin Dr. Erin K. Contino von der Colorado State University hat sich in einem Fachbeitrag genau mit dieser Frage beschäftigt: Sind vermeintliche „Verhaltensprobleme“ bei Sportpferden tatsächlich psychischer Natur – oder steckt fast immer ein körperliches Problem dahinter?
Pferde zeigen Schmerzen – wir müssen nur lernen hinzusehen
Dr. Continos Fazit: Was wir als „Ungehorsam“ deuten, ist in vielen Fällen der Ausdruck von Schmerz oder Unwohlsein. Das reicht von unterschwelliger Lahmheit über Muskelprobleme bis hin zu Erkrankungen des Rückens, Magens, Atmungsapparats oder hormonellen Ungleichgewichten. Das macht Sinn, wenn wir uns das Pferd als Fluchttier vorstellen. Wenn Schmerzen oder Unwohlsein gleich zu erkennen wären, wäre das Pferd ein leichtes Opfer für Beutegreifer. Somit ist das Pferd ein „Kompensationswunder“ – und leidet bei Schmerzen oft erst mal still.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Krankheiten bei Pferden sich bereits durch auffälliges Verhalten ankündigen, noch bevor klare körperliche Symptome sichtbar werden. Die renommierte Tierärztin Dr. Sue Dyson hat diesen Zusammenhang 2022 zum Anlass genommen, einen Verhaltenskatalog mit 24 typischen Schmerzäußerungen zu entwickeln – darunter eine dauerhaft hinter der Senkrechten gehaltene Kopfposition, angelegte Ohren oder ein eingeklemmter Schweif.
Verhaltensprobleme bei Pferden: Schmerz sichtbar machen
Verhaltensprobleme bei Pferden beginnen oft mit kleinen, kaum wahrgenommenen Signalen. (© Redaktion)
Für Veterinäre, die Verfassungsprüfungen durchführen, kann zusätzlich das sogenannte Ethogramm hilfreich sein, das Dyson 2023 veröffentlichte. Es beschreibt dieselben Schmerzverhalten anschaulich und wurde durch Videomaterial ergänzt (z. B. auf YouTube). Trotz seines praktischen Nutzens findet dieser Leitfaden bislang weder in FEI-Verfassungsprüfungen noch auf dem Abreiteplatz oder in Dressurprüfungen Anwendung.
Woran erkenne ich, ob mein Pferd Schmerzen hat?
- Buckeln, Steigen oder Bocken unter dem Sattel
- Unwilligkeit bei Übergängen oder Seitengängen
- Plötzliche Schreckhaftigkeit oder Gereiztheit
- Zügellahmheit oder Widersetzlichkeit beim Stellen
- Taktfehler ohne sichtbare Lahmheit
- Keine Verbesserung trotz konsequentem Training
Studien zeigen: Schmerz wird oft übersehen
In einer Pilotstudie mit 90 englischen FEI-Sportpferden zeigten:
- 90 Prozent der Pferde Gangauffälligkeiten
- Nur 54 Prozent der Pferde, die von ihren Reitern als lahmfrei eingestuft wurden, waren es tatsächlich
Dass dies kein Einzelfall ist, zeigte eine Studie mit 200 Cuttingpferden: 58 Prozent der Pferde, die wegen Leistungseinbußen vorgestellt wurden, waren tatsächlich lahm an mindestens einem Bein!
Verhaltensprobleme bei Pferden im Vet Check erkennen
Wenn wir das Pferdewohl an erste Stelle stellen wollen und nebenbei langwierige Krankheiten mit Trainingsausfall und Wiederaufbau verhindern wollen, müssten wir dann diesen Hinweisen nicht viel früher nachgehen, zum Beispiel schon bei der Verfassungsprüfung auf großen Turnieren?
Nein, sagt Dr. Jürgen Martens, FEI-Tierarzt. Die Vet Checks seien schon sehr genau, denn neben dem Tierarzt sei ja auch eine Richtergruppe daran beteiligt. Diese entscheide auch, ob das Pferd „fit to compete“ sei oder noch mal zurückgestellt werde in die sogenannte Holding Box, wo ein zweiter Tierarzt die Möglichkeit hat, das Pferd komplett zu untersuchen und sich danach an die Richter zu wenden mit seiner Einschätzung.
Der Abreiteplatz als Gatekeeper?
Für eine genaue Verhaltensanalyse über mehrere Minuten sei die Zeit hier zu kurz. „Ich schaue mir jedes Pferd einmal rundherum im Stand an, danach im Schritt und Trab. Das ganze Prozedere dauert aber nur 1 bis 2 Minuten.“
Möglich wäre dies jedoch auf dem Abreiteplatz. Denn hier hat der Steward nicht nur den Vorteil, das Pferd über längere Zeit zu sehen, sondern auch unter dem Reiter. „Das ist eine gute Möglichkeit, um das Pferd genauer in Augenschein zu nehmen, und diese wird auch oftmals genutzt, auch auf kleinen nationalen Turnieren. Wir haben hier ein Turnier in der Gegend, wo eine Grand-Prix-Reiterin und Ausbilderin die Steward-Funktion auf dem Abreiteplatz einnimmt. Jedes Jahr werden dort auch ein oder zwei Reiter nach Hause geschickt.“
Solche Bilder müssen der Vergangenheit angehören
„Zunge legen“ ist nicht nur eine Verhaltensauffälligkeit, es kann auch ein Anzeichen für Schmerzempfinden sein. (© Ludwiga von Korff)
Für eine umfassendere Beurteilung muss der Steward also nicht nur den Verhaltenskatalog kennen, sondern vor allem, wie sich ein normales, gesundes Reitpferd bewegt – und welche kleinen Signale es sendet, wenn es ihm nicht so gut geht. Dies ist ein großes Potenzial für mehr Pferdewohl im Turniersport, welches noch nicht völlig ausgeschöpft wird.
Ich fände es sehr gut, wenn man sich einige Kriterien aus dem Katalog herausgreift und hier noch mal gezielte Schulungen für Stewards macht.
– Dr. Martens –
Verhaltensprobleme bei Pferden: Unwohlsein erkennen
Dies würde dann auch dazu führen, dass wir einige inakzeptable Vorstellungen auf Turnieren gar nicht erst in der Prüfung sehen würden. Ob blaue Zungen, Pferde hinter der Senkrechten, zugeschnürte Mäuler oder harter Sporeneinsatz – die Pferde zeigen immer schon in ihrem Verhalten, dass solche Ritte Unwohlsein verursachen. Solche Bilder müssen deshalb der Vergangenheit angehören, vor allem, wenn der Pferdesport seine Daseinsberechtigung nicht verlieren will.
„Ich wünsche mir mehr Mut der Richter, auch einfach mal eine Prüfung abzubrechen. Bevor dies passiert, hagelt es meist eher 5er- oder 6er-Noten, anstatt einfach zu klingeln und somit ein Zeichen zu setzen“, fügt Dr. Jürgen Martens noch hinzu.