Ein besonderer Ort kann für Kinder mehr bewirken, als man denkt. Abseits von der Schule und ihrem Zuhause lernen sie hier Verantwortung, Teamgeist und Selbstvertrauen – Fähigkeiten, die sie ein Leben lang begleiten. Pferde bieten einen solchen Raum, in dem Kinder wachsen und wichtige Erfahrungen machen können.
Mein erster Kontakt mit Pferden begann unscheinbar: ein Eselritt auf Mallorca, ich war vier Jahre alt. Damals hätte wohl niemand gedacht, welchen Einfluss dieses Erlebnis einmal auf mein Leben haben würde. Vielleicht hätten meine Eltern mich sogar lieber selbst laufen lassen, wenn sie geahnt hätten, was dieses kleine Abenteuer anstoßen würde.
Zuhause war es oft laut, angespannt, manchmal kaum auszuhalten. Nach außen schien alles perfekt – ein schönes Haus, ein großer Garten, ein Hund. Wir waren in einer privilegierten Situation, und doch fehlte etwas ganz Entscheidendes: Ruhe, Sicherheit, Geborgenheit. Mit elf Jahren kam dann ein Einschnitt, der vieles veränderte. Mein Vater zog für eine Zeit aus, und auch ich zog irgendwie aus – in den Reitstall. Von diesem Tag an wurde er zu meinem zweiten Zuhause.
Ordnung und ein klarer Tagesablauf
Im Stall habe ich gefunden, was mir zu Hause oft gefehlt hat: Ruhe, Ordnung und ein klarer Tagesablauf. Anfangs durfte ich noch nicht reiten – meine Mutter hatte große Sorge, dass mir etwas passieren könnte. Das war für mich kein Problem. Mir ging es weniger ums Reiten als darum, Zeit mit den Pferden zu verbringen, sie zu beobachten und ihre Nähe zu spüren. Ich fühlte mich dort sicher und aufgehoben.
Bis heute ist der Stall für mich dieser besondere Platz geblieben: mein Rückzugsraum, mein Wohlfühlort. Hier kenne ich mich aus, hier weiß ich, was ich tue. Hier sind Menschen, die mich verstehen und die ich verstehe – weil wir gleich ticken. Ich bin überzeugt: Ohne die Pferde und ohne diesen besonderen Ort wäre ich nicht die Person geworden, die ich heute bin.
Pferde sind für Kinder Partner und Vertraute
Doch meine Geschichte ist nur eine von vielen. Wer regelmäßig Zeit im Stall verbringt, weiß: Pferde sind mehr als ein Sportpartner oder eine Freizeitbeschäftigung. Für Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene werden sie zu vertrauten Begleitern – und der Stall zu einem zweiten Zuhause. Manche suchen hier Ruhe, andere Gemeinschaft, wieder andere einfach das Gefühl, verstanden zu werden. Dass Pferde die körperliche Entwicklung von Kindern fördern – Balance, Koordination, Körperbewusstsein –, ist längst bekannt.
Doch mindestens genauso entscheidend ist die psychologische Komponente. Pferde vermitteln Sicherheit, stärken das Selbstvertrauen, bieten Halt in turbulenten Zeiten. Sie sind Zuhörer ohne Vorurteile, Gefährten ohne Bedingungen. Der Stall wird dadurch zu einem Ort, der weit über Sport und Hobby hinausgeht: zu einem Rückzugsort.
Genau darüber habe ich auch mit Nomi Breckwoldt und ihren Eltern gesprochen. Sie ist fast jeden Tag im Stall anzutreffen. Ihre Geschichte zeigt, warum dieser Ort für so viele Menschen eine besondere Bedeutung hat – auch dann, wenn das Zuhause stabil ist und die Familie intakt.
Keine Liebe auf den ersten Blick
Nomi hat schon seit ihrer frühesten Kindheit Kontakt zu Pferden. Dabei waren die Pferde für sie nicht die „Liebe auf den ersten Blick“. Mit sieben Jahren haben ihre Eltern, Katja und Marc, sie in einer Reitschule angemeldet – erst einmal die Woche normal im Schulunterricht. Zu diesem Zeitpunkt spielte Nomi noch Hockey, und Reiten war nicht so ein wichtiger Bestandteil in ihrem Leben.
Anfang 2022 wurden aus einem Tag dann zwei Tage, und schnell kamen auch die Wochenenden dazu. So entstand die Liebe zu den Pferden. Das Reiten selbst stand dabei nie im Fokus. „Unsere Tochter hat uns da auch etwas ausgetrickst. Sie hat eine Pflegebeteiligung angeboten bekommen für 20 Euro im Monat. Später fanden wir dann heraus, dass sie jeden Monat noch zehn Euro von ihrem eigenen Taschengeld dazugegeben hat“, erzählt ihre Mutter Katja.
Mit dieser Pflegebeteiligung ging es richtig los. Die Schülerin verbrachte jede freie Minute im Stall.
Pferde bedeuten für Kinder Verantwortung
Schnell kam auch der Wunsch nach einem eigenen Pferd auf. Erst waren Katja und Marc noch nicht ganz begeistert von der Idee. Ein Pferd ist, wie uns allen bekannt ist, sehr teuer und zeitintensiv – und außerdem eine große Verantwortung für eine Zwölfjährige. „Ein Pferd kommt nur infrage, wenn die Schule läuft“, sagten die Eltern. Damals war Nomi nach eigenen Aussagen nicht die motivierteste Schülerin in der Schule. Aber mit dem neuen Ansporn wurden die Noten direkt besser.
„Nomi hatte plötzlich Notensprünge von ein bis zwei Noten nach oben“, so Marc Breckwoldt. Weihnachten 2023 war es dann endlich so weit: das erste eigene Pferd für Nomi! Ihre Eltern legten ein kleines Schleich-Pferd unter den Baum – mit dem Kommentar: „Ich ziehe bald ein.“ Für Nomi ging in diesem Moment ein Traum in Erfüllung.
Ein neues Familienmitglied
Kurze Zeit später wurde Selfmade ein Teil der Familie Breckwoldt und zog in einen Stall, welcher von den Breckwoldts aus mit dem Fahrrad zu erreichen ist. Seitdem geht es für die junge Reiterin jeden Tag nach der Schule in den Stall. Doch das reicht ihr nicht – sie möchte mehr. Die Wochenenden verbringt Nomi in dem Stall, wo die Familie Selfmade gekauft hat. Freitagmittag um 15 Uhr, und keine zehn Minuten später, holt ihre Mutter sie von der Schule ab und fährt sie in den Stall. Dasselbe am Samstag und Sonntag. Dort hilft Nomi engagiert mit, reitet verschiedene Pferde und lernt jeden Tag dazu. Die Abende verbringt sie bei Selfmade im Stall.
Kein Wochenende mehr ausschlafen. Keine Familienfrühstücke mehr. Ein geringer Preis für die positiven Einflüsse, welche die Pferde auf das Mädchen genommen haben. „Ich sehe, wie gut es unserer Tochter tut bezüglich der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und ihres Charakters, was sie da mitnimmt im Umgang mit den Pferden und den Menschen, die dort sind. Das macht mich glücklich, sie so glücklich zu sehen“, erzählt Marc Breckwoldt.
Kinder entwickeln sich durch Pferde positiv
Nomi war, bevor sie so viel Zeit mit den Pferden verbracht hat, ein sehr ruhiges, schüchternes und eher unsicheres Mädchen. Mittlerweile empfindet sie sich selbst als selbstbewusst und als echter Teamplayer. Auch ihre Eltern konnten eine enorme Entwicklung bei ihr feststellen. Ihre Mutter Katja beschreibt: „Sie hat sich von einem komplett schüchternen, zurückhaltenden Mädchen, das mit Menschen relativ wenig am Hut hatte, zu einem selbstbewussten, offenen Menschen entwickelt – und das innerhalb von eineinhalb Jahren.“
Für Katja und Marc ist klar: Die Pferde haben nicht nur das Leben ihrer Tochter geprägt, sondern auch die gesamte Familie. Auch sie fühlen sich mittlerweile fest mit dem Stall verbunden. Nomi weiß das sehr zu schätzen – ohne den Rückhalt ihrer Eltern, sagt sie selbst, wäre all das gar nicht möglich gewesen.
Das Pferd als Schlüssel für Verantwortung
Die Geschichte von Familie Breckwoldt ist kein Einzelfall. Dr. Christina Münch, Mitgründerin der Initiative Pferde für unsere Kinder, bestätigt: „Die Kindheit heute ist extrem schwierig – Digitalisierung, Bewegungsmangel und Social Media reißen viele Kinder in Parallelwelten. Pferde bieten hier einen einzigartigen analogen Raum, in dem Kinder sich entwickeln können.“
Im Stall lernen Kinder, Verantwortung zu übernehmen. Sie üben Verlässlichkeit, Teamgeist und einen respektvollen Umgang mit einem großen, sensiblen Lebewesen. Genau diese Grundhaltungen – Einfühlungsvermögen, Pflichtbewusstsein und innere Stärke – prägen Kinder fürs Leben. „Es ist das Eindrucksvollste, dass jeder Mensch sich in der Anwesenheit eines Pferdes verändert – und zwar in kürzester Zeit.“
Pferde für unsere Kinder

Der gemeinnützige Verein „Pferde für unsere Kinder e.V.“ setzt sich dafür ein, Kindern und Jugendlichen in Deutschland den Zugang zu Pferden zu ermöglichen. (© Pferde für unsere Kinder)
Welche Wirkung Pferde konkret auf Menschen haben, ist schwer erklärbar. Diesen Moment muss man erlebt und selbst gefühlt haben. Seit Anfang der 2000er Jahre erlebt die Pferdebranche eine negative Entwicklung. Dies hat aus Sicht von Dr. Münch verheerende Folgen – nicht nur für die Pferdebranche selbst, sondern auch für die langfristige Entwicklung der Gesellschaft.
Fragen wie „Wie wäre mein Lebensweg ohne das Pferd verlaufen?“ und „Inwieweit ist der Mensch heute überhaupt mental in der Lage, einen Beruf auszuüben – ohne den Einfluss von Tieren und insbesondere von Pferden?“ beschäftigen sie täglich. Mit der Initiative Pferde für unsere Kinder e.V. möchte sie erreichen, dass jedes Kind in Deutschland Zugang zu Pferden bekommt – ein langsamer Prozess, der jedoch wieder vermehrt in das Bewusstsein der Menschen vordringt.
Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist dieses Anliegen dringend notwendig: Laut Eurostat sind in der EU rund 12,9 Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren sogenannte NEETs – also weder in Ausbildung noch in Beschäftigung. Bei jungen Menschen mit niedrigem Bildungsstand liegt dieser Wert sogar bei über 20 Prozent (Eurostat, 2023).
Diese Zahlen machen deutlich, dass ein erheblicher Teil der jungen Generation den Übergang ins Berufsleben nicht schafft. Hier setzt die Arbeit von „Pferde für unsere Kinder“ an: Pferde können Kindern frühzeitig wichtige Kernkompetenzen wie Zuverlässigkeit, Mitgefühl und Durchhaltevermögen vermitteln – Fähigkeiten, die im späteren Berufsleben entscheidend sind.
Die Gesellschaft braucht das Pferd
Nach Ansicht von Dr. Christina Münch braucht unsere Gesellschaft dringend widerstandsfähige und selbstbewusste junge Menschen, die Eigenverantwortung übernehmen können. Doch genau daran mangelt es in Deutschland zunehmend: Wir produzieren eine Generation, die weniger belastbar ist und oft nicht gelernt hat, für sich und andere einzustehen. Ein Grund dafür liegt darin, dass Kinder in der digitalen Welt immer schwerer erreichbar sind – echte Erfahrungsräume, in denen Werte wie Disziplin, Verlässlichkeit und Einfühlungsvermögen wachsen, gehen verloren.
Hier setzt das Pferd als einzigartiger Partner an: Als Herdentier lebt es nach klaren Strukturen und Regeln. Wer mit Pferden arbeitet, lernt, diese Regeln einzuhalten und das eigene Verhalten zu reflektieren. Pferde geben unmittelbares und ehrliches Feedback, das weder beschönigt noch verschwiegen wird – eine Erfahrung, die Kindern Orientierung bietet und ihnen hilft, innere Stärke und Selbstvertrauen aufzubauen. Deshalb muss der Zugang zu Pferden zwingend für Kinder ermöglicht werden, wenn wir eine Gesellschaft formen wollen, die auch in Zukunft tragfähig und handlungsfähig bleibt.
Lösungsansätze für eine positive Entwicklung
Dr. Münch betont, dass der Zugang zu Pferden für Kinder nicht nur ein schönes Hobby, sondern eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist. Kinder sollten früh die Möglichkeit erhalten, regelmäßig Zeit im Stall zu verbringen – sei es durch Reitunterricht, Pflegebeteiligungen oder betreute Projekte in Schulen und Vereinen. Dabei geht es nicht ausschließlich ums Reiten, sondern um das Zusammensein und Lernen mit dem Tier.
Darüber hinaus plädiert sie für niedrigschwellige Angebote: Ställe, die für Kinder offen und einladend sind, Kooperationen zwischen Schulen und Reitvereinen sowie Programme, die soziale und emotionale Kompetenzen fördern. Durch regelmäßige Erfahrungen mit Pferden können Kinder Schritt für Schritt Selbstvertrauen, Teamfähigkeit und eine reflektierte Persönlichkeit entwickeln.
Pferde stärken und bereichern Kinder
Dr. Münch sieht darin einen langfristigen Ansatz: Kinder sollen nicht nur lernen, wie man reitet, sondern auch, wie man Verantwortung übernimmt – für das Tier, für sich selbst und für die Gemeinschaft. Diese Kompetenzen wirken weit über den Stall hinaus und bereiten sie auf ein selbstbestimmtes, resilienteres Leben vor. Mit solchen Initiativen können Kinder gestärkt aus der digitalen Welt geholt werden, ihre Potenziale entfalten und zu tragfähigen Mitgliedern der Gesellschaft heranwachsen.
Jedes Kind verdient die Chance, positive Erfahrungen mit Pferden zu machen. Als Eltern, Pädagogen, Reitvereine oder einfach als Mitglieder unserer Gesellschaft tragen wir die Verantwortung dafür, diesen Zugang zu ermöglichen. Ob durch Reitunterricht, Pflegebeteiligungen oder offene Stallprojekte – jede Gelegenheit, ein Kind in den Stall zu bringen, kann seine Entwicklung entscheidend prägen.
Ein Appell an uns alle
Schaffen wir also kontinuierlich und niedrigschwellig Möglichkeiten, in denen Kinder Verantwortung, Empathie und Teamfähigkeit entwickeln können! Nur wenn wir diese Verantwortung ernst nehmen, können Kinder Selbstständigkeit und Resilienz erlernen und langfristig besser auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet werden. Unterstützen Sie Möglichkeiten, die diesen Zugang schaffen – jedes Kind verdient diese Chance.






