Die Dehnungshaltung ist ein zentrales Element in der Ausbildung von Pferden – und gleichzeitig ein Thema, das häufig für Diskussionen sorgt. Wie viel ist sinnvoll? Wann wird sie falsch verstanden? Und welche Rolle spielt sie im Trainingsalltag und im Sport? Antworten darauf gibt Katrina Wüst, internationale Fünf-Sterne-Richterin, die sich in den Gremien der FEI für pferdegerechtes Reiten einsetzt.
Katrina Wüst spricht im Interview über ihre Erfahrungen aus Training und Turniersport. Sie erklärt, wie Reiter die Dehnungshaltung trainieren können, welche Fehler häufig auftreten und welche Bedeutung Losgelassenheit und Psyche des Pferdes haben.
Dehnungshaltung trainieren: Abwechslung wichtiger als Tiefe
Hooforia: Welche Rolle spielt die Dehungshaltung in eurem Trainingsalltag?
Katrina Wüst: Das kommt ein bisschen darauf an, wie man sie definiert. Klassische Dehnungshaltung als Haltung, in der das Pferd mit Nase vor der Senkrechten die Tiefe etwa auf Höhe des Buggelenks sucht, hat einen festen Platz in unserem Alltag. Wir reiten in jeder Einheit am Anfang und zwischendurch mit hingegebenem Zügel, sodass die Pferde zwanglos die Tiefe suchen – so tief wie es ihnen angenehm ist.
Ist das Pferd zwanglos, darf es sportlicher werden – wenn wir Bahnfiguren und Lektionen reiten, sind die Pferde angepasst an die Aufgabe, ihr Exterieur und ihren Ausbildungsstand natürlich auch mehr oder weniger relativ aufgerichtet. Wir lassen nach jeder Reprise die Zügel aus der Hand kauen, wobei die Pferde in die Dehnungshaltung kommen, gern auch noch tiefer bis zum hingegebenen Zügel. Was wir nicht machen, ist rundenlanges extra tiefes Einstellen. Ganz nach dem Motto: Die beste Haltung ist immer die nächste.
Gibt es einen Punkt, an dem es zu viel Dehungshaltung ist/sie sogar schädlich sein kann?
Ja, vor allem, wenn die falsch verstanden wird, nämlich als rückwärts-abwärts. Schon 10 Grad Nase hinter der Senkrechten beeinflussen die Sauerstoffaufnahme negativ (Tilley et al 2023) neben weiteren negativen Auswirkungen. Auch nicht gut ist, die Pferde vorn mit der Hand tief einzustellen und gleichzeitig über Tempo zu jagen.
Positive Effekte durch Reiten mit hingegebenen Zügeln
Eine ehrliche, klassisch verstandene Dehnungshaltung ist immer auch freiwillig, weil sie auf Dehnungsbereitschaft beruht – und die ist ein Zeichen von innerer und äußerer Losgelassenheit und absolut unschädlich. Manuell hergestellte Dehnungshaltung, in der man dann minutenlang außenrum reitet, entspricht nicht unserer Vorstellung von dynamischer, interessanter und abwechslungsreicher Arbeit.
Was allerdings sehr positive Effekte hat, ist Reiten mit hingegebenem Zügel, wobei das Pferd sich zwanglos mehr oder weniger tief dehnt. In diesen Reprisen kann man wunderbar Sitzübungen machen, die den Reiter und dadurch das Pferd lösen.
Wenn Stress beim Dehnungshaltung trainieren das Pferd blockiert
Wie beeinflussen individuelle psychische Faktoren (Stress, Angst) die Dehnungsbereitschaft?
Enorm! Ein gestresstes Pferd wird versuchen, Kopf und Hals zu heben und wird gleichzeitig die Rumpfmuskulatur (besonders die Wirbelsäulenstrecker) anspannen, um sich für eine eventuelle Flucht zu stabilisieren: Kopf hoch, Schweif hoch, Rücken weg.
Diese Haltung ist super effizient für eine schnelle Flucht, aber eben nicht Ausdruck von Losgelassenheit, sondern für Stress. Entsprechend hängt die Dehnungsbereitschaft an der Psyche – ein Pferd, das Stress empfindet, dehnt sich nicht freiwillig, sondern nur durch Handeinwirkung oder aus Angst vor Strafreizen.