Ausbilderinnen im Interview: Ist mehr treiben wirklich die Lösung?


Bild vergrößern Triebigkeit vermeiden: Nicole Künzel auf einem Pferd

Treiben will gelernt sein. Viel hilft nicht immer viel. (© Antje Wolff)

Die Aufforderung im Training das Pferd „mehr von hinten nach vorne“ zu reiten, kann zu einem Kreislauf aus Dauertreiben, Verspannungen und Sitzfehlern führen. Das Problem: Viele Standardsätze im Reitunterricht werden falsch verstanden. Die Ausbilderinnen Brigitte Lenz und Nicole Künzel erklären, warum ständiges Treiben weder pferdegerecht noch effektiv ist und wie es richtig geht.

Die Ausbilderinnen Brigitte Lenz und Nicole Künzel erklären im Interview, warum ständig mehr Treiben weder pferdegerecht noch effektiv ist und wie sich Triebigkeit vermeiden lässt.

Immer mehr Treiben? Nicole Künzel über „mehr von hinten nach vorne“ im Reitunterricht

Hooforia: Wie siehst du das? Oft wird es ja z.B. im Unterricht dauernd repetiert: „Treib ihn mehr von hinten nach vorne“ und die Reiter*innen treiben und treiben. Ist das die Lösung?

Nicole Künzel: Ein aktives Hinterbein findet sich in einer feinen Anlehnung wieder. Mein Ziel ist es, mein Pferd so fein wie möglich an meinen Hilfen zu haben, also eigentlich ohne Bein, impulsartig mit ihm in die Kommunikation zu treten. Muss ich eine Hilfe kurzfristig verstärken, darf das auch wirklich nur kurzfristig, ohne Schmerzreiz und für das Pferd nur absolut verständlich erfolgen.

Ein Lebewesen, wie das Pferd, das jeden Millimeter seiner Haut ansteuern kann, um beispielsweise eine Fliege zu verscheuchen, mit Kraft und ständigem Treiben reiten zu wollen widerstrebt mir ganz und gar – es ergibt überhaupt keinen Sinn. Klappt etwas nicht, wie beispielsweise ein frisches Vorwärts oder aktives Hinterbein, gilt es grundsätzlich seinen Ausbildungsplan zu überdenken, dem Pferd seine Idee besser zu erklären oder auf weitere Ursachenforschung zu gehen.

Was steckt hinter der Idee „Von hinten nach vorne? Und warum wird sie oft falsch verstanden?

Die Grundidee ist sicher in dem Bestreben des Reiters, eine aktive Hinterhand zu erhalten, zu finden. Und natürlich soll der natürliche Vorwärtsfluss von hinten nach vorne durch den Pferdekörper fließen und in einer feinen Anlehnung münden. Geht „die treibende Hilfe nicht durch“, fehlt also ein aktives Hinterbein, wird eine korrekte Ausbildung nach der Ausbildungskala hin zur Versammlung und einem auf die Reiterhilfen durchlässigen Pferd, nicht möglich sein.

Jedoch wird dabei oftmals übersehen, dass das Pferd ja nicht nur aus einer Hinterhand besteht. Vielmehr gilt es, den gesamten Rumpf-Trageapparat in seinem komplexen Zusammenspiel zu verstehen. So hat zum Beispiel eine korrekte Kopf-Hals-Position und eine gut aktivierte Bauchmuskulatur einen eklatanten Einfluss darauf, wie frei sich das Pferd bewegen kann.

So individuell unsere Pferde in Exterieur und Interieur sind, so gilt es auch immer wieder individuelle, auf das Pferd zugeschnittene Trainingsreize zu setzen. Kann ich das eine Pferd im gleichmäßigen Rhythmus an eine ruhig stehende Hand herantreiben und es schwingt fleißig „vor sich hin“, so muss ich das andere Pferd vielleicht zunächst in einem ruhigeren Rhythmus reiten, um es zu balancieren, ein anderes wiederum benötigt hierfür gegebenenfalls übergangsweise ein etwas höheres Grundtempo.

Wie schaffe ich es, dass mein Pferd auf feine Schenkelhilfen reagiert?

Zunächst einmal ist es wichtig, dass das Pferd überhaupt in der Lage ist, die treibenden Hilfen durch „den Körper durchzulassen“, das bedeutet nur ein ausbalanciertes Pferd wird den Reiterhilfen auch auf minimale Impulse hin Folge leisten können. Neben dem körperlichen Aspekt gilt es auch, meinem Pferd die treibenden Hilfen gut erklärt zu haben. Dies beginnt bereits bei der Bodenarbeit und setzt sich über die Arbeit an der Hand und an der Longe fort.

Viele Pferde haben die treibenden Hilfen einfach schlichtweg nicht verstanden oder sie wurden so inflationär gebraucht, dass das Pferd gelernt hat, dass sie keine Bedeutung haben. Möchte das Pferd – als Lauftier (!) – nicht vorwärtsgehen, gilt es immer Ursachenforschung im Hinblick auf seine Gesundheit, das Equipment, die Haltung und natürlich seine Ausbildung betrifft, zu betreiben.

Experteninfo Nicole Künzel

Nicole Künzel leitet das evipo Ausbildungszentrum in Hannover. Ihr liegt die klassische Ausbildung von Reitern und Pferden im Sattel aber auch am Boden am Herzen. In der Ausbildung spielt für sie auch die Einbeziehung des Verständnisses über die Anatomie und Biomechanik eine Rolle. Nicole Künzel ist Autorin mehrerer Pferdefachbücher.

Ist mehr Treiben die Lösung, Brigitte Lenz?

Hooforia: Wir sehen immer wieder Bilder von Menschen, die ihre Pferde sehr stark treiben – und Pferde, die darauf aber (nicht immer) wirklich reagieren. Warum ist es so weit verbreitet, dass Reiter denken: viel hilft viel?

Brigitte Lenz: Wir haben das immer im Unterricht so gehört und gelernt. Viele Reiter glauben, Schenkel heißt immer: Vorwärts, sofort, ohne Widerrede – doch genau dieses unreflektierte Treiben mit Schenkeln und Sporen bringt mehr Probleme als Erfolg. Häufig ist dies der Grund für Widerstand, unschöne Bilder und einen unnötigen Verschleiß beim Pferd.

Diese Vorstellung vom „Treiben“ ist weit verbreitet, aber eben wenig hilfreich, wenn wir eine feine und gesunderhaltende Reitweise anstreben. Ein entscheidender Fehler beim Reiten ist: das Pferd einfach nur mit dem Schenkel oder Sporn vorwärts treiben zu wollen, ohne den gesamten Bewegungsablauf des Pferdes zu verstehen.

Im Unterricht fällt dann die Aussage „mehr von hinten“ oder „treib ihn mehr von hinten ran“ wie ordnest du diese Aussagen ein und wie könnte es dem Reiter verständlicher rübergebracht werden?

Das unsinnige Denkmodell „mehr und stärker treiben führt automatisch zu besserem Vorwärts“ wird besser durch einen physiologischen und funktionalen Zugang vermittelt: Der Begriff integrale (verbindende) Hilfen beim Reiten beschreibt einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem die Hilfen harmonisch, pferdegerecht und auf natürliche Bewegungsabläufe des Menschen und des Pferdes abgestimmt eingesetzt werden.

Im Mittelpunkt steht die Idee, dass Hilfen nicht nur klar und möglichst eindeutig, sondern auch fein, unsichtbar und im Einklang mit der natürlichen Pferdebewegung wirken sollen, um eine vertrauensvolle und harmonische Beziehung zwischen Reiter und Pferd zu fördern. Effektives Treiben basiert auf dem genauen Timing, das heißt auf dem Erspüren von Bewegungsablauf und Bewegungsrhythmus um das Pferd nicht zu stören oder zu verunsichern.

Beim Reiten über den Sitz kann das Pferd direkt und unmittelbar über seinen Rücken beeinflusst werden. Der Reiter kann spüren lernen wann sich die Rückenline des Pferdes hebt (Spannungsbogen verkürzt sich) und wieder senkt (Spannungsbogen verlängert sich). Reitersitz (Becken) und Hand folgen diesem Wechselspiel des wechselnden Spannungszustandes des Pferderückens.

Was ist das übergeordnete Pausenprinzip der integralen Hilfen?

Statt unnötigem Druck, werden rhythmisch wiederkehrende Impulse mit der nachfolgenden Pause innerhalb einer Bewegungseinheit des Pferdes (Bewegung aller vier Beine) genutzt, die das Pferd zum Vorwärtsgehen, Biegen oder zu einer bestimmten Richtung aufzufordern, ohne dass dauerhafte Zug- oder Schiebekräfte ausgeübt werden. Alleine dieses lockere Mitschwingen über den Sitz in die Bewegungsrichtung und das rhythmische Zulassen nach vorne durch die Hand hat treibende Wirkung.

Hier wird deutlich, dass Sitz und Hand nicht unabhängig voneinander sind, sondern im Gegenteil abhängig von einander eingesetzt werden müssen um in der Bewegung des Pferdes zu sein. Richtig verstandenes Treiben verbessert Anlehnung, Schwung und Balance statt das Pferd mit unnötigem Druck schraubstockartig einschließen zu wollen und ihm die Gehfreude zu nehmen. Mit diesem physiologischen Verständnis kann das weit verbreitete „mehr hilft mehr“-Denkmodell besser durch einen feinen, rhythmischen und gezielten Umgang mit den Hilfen ersetzt werden, der dem Pferd Raum, Balance und Freude an der Bewegung lässt.

Wie können Trainer Reiter und Pferd unterstützen?

Hilfen sind keine Befehle, sondern ein Zwiegespräch – doch viele Reiter verlernen das Zuhören. Daher dient ein Lernen und Lehren als Forschungsreise dazu, selber zu erfühlen, was unter dem Sattel passiert. Dies lässt Reiter autonom und selbstbestimmt werden. Das verlangt aber auch vom Trainer ein Umdenken durch angepasste Denkmodelle und durch besser verständliche sprachliche Anweisungen. Die alten Ideen verursachen vielfach die Probleme, die wir heute zu sehen bekommen.

Der Trainer sollte ein Grundgerüst anbieten können, welches die funktionellen Bewegungsabläufe von Mensch und Pferd möglichst harmonisch miteinander verbinden kann. Des Weiteren ist es gut, wenn sich der Trainer auch immer wieder deutlich zurücknehmen kann und weniger bis keine Anweisungen gibt, um dem Reiter den Raum zu geben seine eigenen Erfahrungen zu machen. Dem Trainer kommt heute, meiner Meinung nach, die anspruchsvolle Aufgabe zu, guten Fragen zu stellen, damit der Reiter eigene Erkenntnisse und Lösungen finden kann um sie dann gemeinsam mit dem Trainer zu reflektieren.

Wie kann der Reiter fühlen lernen, was richtiges Treiben bedeutet?

Am Anfang steht das genaue Beobachten und Fühlen, das Reflektieren. Dann muss die Rückmeldung durch das Pferd beachtet werden. Ein Pferd zeigt durch Reaktion (Veränderung in Schwung, Vorwärtsdrang, Entspannung oder Widerstand) an, ob das Treiben, also die gesamte Körperenergie die aufgewendet wird, angemessen ist. Der Reiter lernt das richtige Maß, indem auf diese Rückmeldungen geachtet wird und entsprechende Anpassungen vorgenommen werden.

Übungen wie das Mitgehen in verschiedenen Gangarten, das Beobachten des eigenen Sitzes und Körperspannung sowie das bewusste Nachfühlen und verbinden der Hilfengebung verbessern die Sensibilität. Das mache ich sehr gerne mit dem Reiter an der Longe, indem ich das Treiben vom Boden aus übernehme und der Reiter erstmal nur die Bewegung erfühlt und einfach erstmal nichts tut. Hilfreich ist es auch, sich Anleitungen von erfahrenen Reitern zu holen, die Rückmeldung geben können, ob die Hilfen zu stark, zu schwach oder zu spät erfolgen, nachdem der Reiter das erstmal selbst einordnen und beurteilen sollte.

Wie finde ich als Reiter das richtige Maß?

Das richtige Maß ist so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Die Treibhilfen sind kurze Impulse, die nie dauerhaft oder mit starker Spannung gegeben werden, sondern in Rhythmus und Dosierung variieren. Timing und Koordination sind wichtiger als Kraft.
Die Hilfen sind am wirksamsten, wenn sie genau zum Bewegungsablauf passen, nicht wenn sie mit maximaler Kraft oder nur mit einzelnen Extremitäten ausgeführt werden (z.B. das Modell der Diagonalen Hilfen- inneres Bein äußerer Zügel).

Reiter und Pferdebewegung sollten sich ganzheitlich verbinden. Das Pferd soll nicht gestresst oder überfordert sein, sondern motiviert mitgehen. Immer die Pferdereaktion im Blick behalten. Auch im Wechsel mal Leichttraben oder im leichten Sitz die Bewegung des Pferdes erspüren um dann wieder im Sattel auf die Bewegung einzugehen. Damit können wir immer mal wieder unsere Körperspannung anpassen und notfalls etwas lösen. Permanente Selbstreflexion und das Wahrnehmen der Wirkung der eigenen Energie, Muskelspannung, Atmung und der treibenden Hilfe auf das Pferd helfen, die Dosierung optimal anzupassen.

Ein Gefühl für das richtige Maß entwickelt sich durch Geduld, Beobachtung und Übung mit Fokus auf feine Wahrnehmung und Rücksichtnahme auf das Pferd. Das Fühlen und Finden des richtigen Maßes beim Treiben betrifft den gesamten Reiterkörper aber auch seine Denkmodelle und seine emotionale Balance. Dieses „aus sich selbst heraus“ fühlen lernen und erforschen wollen, macht den eigentlichen Weg zum Ziel und kann ungeheuer spannendend und persönlichkeitsbildend sein. Diese innere Einstellung führt zu Autonomie im Denken, Beurteilen und Handeln. Sie ist die entscheidende Fähigkeit für pferdegerechtes, harmonisches Reiten mit unsichtbaren Hilfen.

Manche Reiter treiben jeden Schritt im Schritt deutlich mit dem Schenkel. Muss das sein, wenn mein Pferd doch eigentlich gut vorwärts geht?

Ein klares Nein. Ein Pferd, das gut im Schritt geht, muss nicht bei jedem einzelnen Schritt mit den Schenkeln getrieben werden. In der Bewegung des Pferdes vorrangig mit Sitz und Hand zu sein, wie bereits beschrieben, hat treibende Wirkung. Ständiges Treiben mit den Schenkeln im Schritt ist hinderlich und wird das Pferd eher stressen oder verunsichern als irgendwas zu verbessern.

Mal zum wach machen, kurz eingesetzt ist es kein Problem, aber dann wieder sanft über Sitz und Hand der Nickbewegung des Pferdes nach vorne folgen. Hier liegt der Hase meist im Pfeffer da hinten mit den Schenkeln gequetscht und vorne festgehalten wird und so die Vorwärtsbewegung mit der Hand nicht zugelassen wird. Was soll das arme Tier da nur tun?

Warum sollte ein Reiter nicht jeden Schritt treiben?

Das Pferd holt sich durch die Pendelbewegung des Rumpfes den Impuls am entspannt liegenden Schenkel bei jedem Schritt selber ab und das reicht! Ein ständiges Treiben bei jedem Schritt blockiert den natürlichen Bewegungsfluss und macht das Pferd angespannt oder stumpf. Ohne permanentes Treiben mit den Schenkeln, kann das Pferd in Ruhe und ungebunden, schreitend mit mehr Balance Schritt gehen. Dauerhafter Druck ist belastend und wird die Losgelassenheit einschränken. Zügellahmheit mit Kürzertreten kann die Folge sein.

Kann der Schritt durch treibende Schenkel verbessert werden?

Nein. Dynamischer, ungebundener und damit und raumgreifender wird der Schritt, wenn das Dehnen der Oberlinie und die Nickbewegung des Pferdes zugelassen wird. Wichtig ist, das Vertrauen des Pferdes zu stärken, in die Reiterhand nach vorne hinein ziehen zu dürfen, weil der Reiter ihm den Raum eröffnet, sich dahin zu bewegen.

Die integrale Hilfe von Beckenbewegung und Hand, die treibende Wirkung hat, wird hier in einer Bewegungssequenz (alle vier Pferdebeine) am deutlichsten, weil das Verkürzen und Verlängern der Oberlinie hier am größten ist und der Reiter aus dem Schultergelenk und  Ellenbogengelenk heraus die Hand vorgeben muss, um dem physiologischen Bewegungsablauf des Pferdes Rechnung zu tragen. Dadurch werden Balance und Losgelassenheit unterstützt und das Pferd kann durch den Körper schreiten.

Experteninfos Brigitte Lenz

Brigitte Lenz ist Begründerin des IntegraLenz-Balance-Konzepts (I.B.K.), einer physiologischen Reit- und Bewegungslehre für Mensch und Pferd mit dem Schwerpunkt Dressur. Die Ausbilderin und Dressurreiterin bis zur schweren Klasse ist zudem Physiotherapeutin (Mensch und Pferd) ,Psychomental Coach (Reiten) und Fachbuchautorin.

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