In einer groß angelegten Studie zeigt ein Forscherteam, wie weit verbreitet die Hyperflexion im Dressursport ist. Zu diesem wissenschaftlichen Team gehört auch Dr. Kathrin Kienapfel. Warum sie zu mehr Konsequenz mahnt und vor der Hetzjagd auf Reiter warnt – ein Interview.
Die Wissenschaftlerinnen Dr. Kathrin Kienapfel und Dr. Uta König von Borstel haben gemeinsam mit ihren Forscherkollegen Andrew McLean, Cristina Wilkins und Paul McGreevy in einer jüngst veröffentlichten Meta-Analyse (statistisches Verfahren, das Ergebnisse mehrerer Studien zur selben Fragestellung zusammenfasst und daraus ein aussagekräftigeres Ergebnis errechnet) gezeigt, welche Auswirkungen die Hyperflexion hat und wie weit verbreitet diese Methode ist.
Sie betonen, dass die mit Hyperflexion verbundenen Belastungen, wie Stress, eingeschränkte Bewegungsfreiheit – mindestens im Kopf-Halsbereich –, erschwerte Atemfunktion sowie potenzielle gesundheitliche Schäden, nicht länger ignoriert werden dürfen.
Frau Kienapfel, Sie forschen seit vielen Jahren zur Kopf-Halsposition des Pferdes, haben die Ergebnisse Ihrer jüngst veröffentlichten Meta-Analyse zur Hyperflexion überhaupt noch überrascht?
Dr. Kathrin Kienapfel: Ja, wir hatten schon gedacht, dass wir Einflussfaktoren finden würden.
Was meinen Sie genau?
Wir haben beispielsweise erwartet, dass die Vorerfahrungen des Pferdes eine Rolle spielen und, dass die Stärke der Halsflexion irgendwie einen Einfluss haben sollte. Aber das ist nicht rausgekommen. Was aber bei der Meta-Analyse statistisch signifikant herauskam, war, dass das Reiten hinter der Senkrechten negative Auswirkung auf das Pferdewohl hat. Und zwar völlig unabhängig davon, wie stark oder wie lange die Hyperflexion ausgeführt wird, oder ob das Pferd Vorerfahrung mit der Hyperflexion hat oder nicht.
Hyperflexion ist also immer gleich schlimm?
Ganz genau. Aber man muss dazu sagen, dass die Gesamtstudien in der Pferdeforschung weniger standardisiert sind als beispielsweise im Humanbereich. Wir haben im Menschenbereich ganz andere technische und finanzielle Möglichkeiten. Zudem ist das Thema Pferdewohl in der Forschung mit vergleichsweise wenig Manpower weltweit besetzt. Wir sind ein kleiner Kreis an Idealisten und das spiegelt sich auch ein Stück weit in der Meta-Analyse wieder.
Was bedeutet das?
Dass wir es mit sehr heterogenen Studien zu tun haben. Und vielleicht würden die Ergebnisse, zum Beispiel, ob die Dosis der Hyperflexion einen Einfluss hat, anders ausfallen, wenn dieser Aspekt besser untersucht wäre.
Auf Social Media, insbesondere auf Facebook, ist in den vergangenen Monaten immer öfter eine Hetzjagd auf Dressurreiter entstanden, auch Ihre Studie wurde herangezogen, um die Reiter als Tierquäler darzustellen. Wie ordnen Sie das ein?
Man muss wirklich vorsichtig sein und versuchen, das Ganze weiterhin objektiv zu betrachten. Ich kann nicht ungefiltert jeden, der sein Pferd drei Grad hinter der Senkrechten reitet, als Tierquäler bezeichnen. Das ist nicht differenziert genug und das behaupten wir auch nicht. Wir sagen: Wenn man das Pferd hinter der Senkrechten reitet, ist das mit Sicherheit nicht richtig. Und es gibt keinen Grund mehr, das irgendwie schönzureden. Es ist ein potenzieller Risikofaktor für das Pferd. Und deswegen sollte das niemals billigend in Kauf genommen werden und schon gar nicht bewusst gemacht werden.
Ich kann nicht ungefiltert jeden, der sein Pferd drei Grad hinter der Senkrechten reitet, als Tierquäler bezeichnen. – Dr. Kathrin Kienapfel –
Ihre Arbeit ergab auch, dass 65 Prozent der untersuchten Studien keinen positiven Effekt auf die Leistung durch Hyperflexion nachweisen konnten. Was ist dann die Motivation, das Pferd doch in der sogenannten „Rollkur“ zu reiten?
Eine meiner Studien, die aber nicht datenbasiert ist und deshalb nicht in der Meta-Analyse aufgenommen wurde, zeigt, dass sich beim eng ausgebundenen Pferd die Bewegungsausführung des Vorderbeines verändert. Die Pferde bekommen mehr Vorhand-Aktivität, unwissenschaftlich ausgedrückt: mehr „Knieaktion“.
Dann haben wir noch diesen großen Funktionskreis der Kontrolle, denn ich kann die Pferde ganz anders unter Druck setzen, wenn ich sie einrolle. Ich habe mit Professor Preuschofft (Anm. d. Red.: Prof. Holger Preuschofft war Kathrin Kienapfels Doktorvater an der Ruhr-Uni Bochum) mal gerechnet, wie die Kräfteverhältnisse für Pferd und Reiter sind, wenn der Reiter das Pferd „einrollt“ und das Pferd aus dieser Position wieder raus möchte. Sagen wir mal so: Die Hebel stehen für den Reiter. Wenn der Reiter das clever macht, ist das wie ein Polizeigriff.
Von wem würden Sie sich am ehesten einen Anruf wünschen mit den Worten, „Frau Kienapfel, was können wir tun?“?
Wir haben eigentlich genug Regeln, die das Tierwohl schützen, und wir können mit der Meta-Analyse genauso wie mit den meisten anderen Studien die Inhalte der Richtlinien für Reiten und Fahren und der bestehenden Regeln nur unterstützen. Aber die Regeln werden nicht genügend umgesetzt. Nur wie kann es sein, dass Richtlinien und Regeln ignoriert werden und einfach nichts passiert, selbst wenn ganz offensichtlich alles auf rot steht – die Reiterhilfen, das Pferd, die Positur, das Stressverhalten?
Wo sehen Sie die größten Hebel für eine Veränderung?
Es sind die Stewards, die aber gestützt werden müssen. Sie brauchen eine wahnsinnige Unterstützung der Verbände. Da muss es Ketten geben, die schnell in Gang gesetzt werden können, damit der Steward nicht allein dasteht. Und wenn ein paar Exempel statuiert werden, mit einer Sperre oder wenigstens mal mit einer gelben Karte, dann würde sich etwas ändern. Und mehr würde es vielleicht erstmal nicht brauchen.
Aber es muss halt so passieren, dass nicht die großen Skandale von außen auf die Reiterwelt einprasseln. Zuletzt war es immer so, durch irgendeinen Leak oder ein Video im Internet ein großer Skandal passiert ist, aber nicht, dass proaktiv mal aus der Reiterwelt irgendwer hingegangen wäre und gesagt hätte, jetzt ist hier Schluss. Und somit können alle immer noch sagen: die böse Öffentlichkeit, die bösen Unwissenden, ihr habt ja alle keine Ahnung.
In der Theorie sind wir uns alle einig, aber in der Praxis wird es anders gelebt. Unsere Meta-Analyse könnte jetzt noch mal stärkend für das ganze Regelwerk sein oder ein zusätzliches Tool im Werkzeugkasten sein, zusammen mit anderen Studien. Es ist doch ein Haufen Wissen vorhanden. Das, was die alten Meister wussten, das, was in den Regeln und Richtlinien steht, das, was die Wissenschaft sagt. Ich meine, eigentlich ist es doch nicht so schwer, oder?

Dr. Kathrin Kienapfel ist promovierte Biologin, erforscht seit vielen Jahren die Auswirkungen des Reitens und insbesondere der verschiedenen Kopf-Hals-Positionen auf das Pferd. (© Kathrin Kienapfel)