Während 70 Islandpferde ihr Heu malmen, schweigen sechs Frauen. Ich bin eine von ihnen. Durchatmen. Still sein, inmitten von Pferden. Und es ist laut, obwohl niemand ein Wort spricht. Besondere Stunden im Stall.
Pferde kauen Heu. Ein Geräusch, das ich liebe. Schon als Kind habe ich Pferden gerne beim Fressen zugehört. Das gleichmäßige Malmen wirkt auf mich beruhigend. Wann ich zum letzten Mal in Ruhe im Stall gesessen und den Pferden beim Fressen zugehört habe? Ich weiß es nicht. Zwischen Beruf, Familie, Freunde und Sport passen nicht viele Auszeiten. Oder ich nehme sie mir nicht. Das ist Ansichtssache.
Als ich die E-Mail mit dem Angebot, an einem Seminar teilzunehmen, das den Titel „Schweigen im Stall“ trägt, in meinem Postfach geöffnet hatte, musste ich lächeln. Sofort hatte ich das Geräusch im Kopf, das beim Zerkauen von Heuhalmen entsteht. Ich bin neugierig, melde mich an und zermartere mir den Kopf, wie es werden wird, im Stall zu sitzen und zu schweigen. Ganz bewusst. Das habe ich noch nie gemacht.
Janina Budde bietet das Seminar „Schweigen im Stall“ an
Die Idee zu dem Seminar hatte Janina Budde. Sie leitet den Reiterhof Budde in Haltern am See in Nordrhein-Westfalen. Es ist ein Familienbetrieb mit einer gewachsenen Reitschule. Ihre Eltern stellten den typischen Münsterländer Hof damals auf Pferde um. Das Ausreitgelände, die Hohe Mark, ist traumhaft, die Reitanlage über die Jahre gewachsen. Die Pferde leben in Gruppen, getrennt nach Geschlechtern in großzügigen Offenställen. Dreimal täglich bekommen sie Heu: morgens, mittags, abends. Mittags haben die Pferde gut 70 Minuten Zeit zum Fressen.
„Ich saß schon immer gern zu den Fütterungszeiten im Stall. Viele unserer Gäste auch. Es ist eine besondere Atmosphäre“, weiß Janina Budde. Sie beobachtet die Pferde gern, wie sie kommunizieren, wie sie agieren. Ganz ohne Worte. „Aufmerksamkeit ist in unserer Zeit so ein hohes Gut. Wir können uns mit dem Smartphone stetig ablenken und tun dies auch oft, ob bewusst oder unbewusst. Dem zu entfliehen ist fast wie eine Rebellion“, sagt Janina Budde lächelnd.
»WIR KÖNNEN UNS MIT DEM SMARTPHONE STETIG ABLENKEN. DEM ZU ENTFLIEHEN IST FAST WIE EINE REBELLION.«
JANINA BUDDE
Ihre tätowierten Hände ruhen in ihrem Schoß, als sie spricht. Sie möchte dies mit ihrem Angebot mehr Menschen zugänglich machen. Niederschwellig, un- kompliziert und so, dass die Pferde auch einfach in ihrem Sein geschätzt werden. „Niemand muss in dieser Zeit etwas leisten. Kein Mensch und kein Pferd. Wir sind einfach da“, erklärt Janina Budde. Es klingt selbstverständlich. Es sind rare Momente im Alltag vieler Menschen. Es sind sehr rare Momente auch in meinem Leben als berufstätige Mutter von zwei Kindergartenkindern.
Einen Blick nach oben wirft Janina Budde während der Ruhezeit. Die Organisatorin des Seminars geht während der Zeit der Stille selbst in sich. (© Diana Wahl)
Die Präsenz der Pferde
Vorfreude steigt in mir auf, als ich den Stall betrete. Zugleich zögere ich. Die vergangenen Wochen waren fordernd. Was ist, wenn all die angestauten Emotionen hochkommen? Der Pferdestall war schon immer mein „safe space“. Wenn ich als Kind traurig war, habe ich meine Nase in das weiche Fell meines Ponys Dornröschen gedrückt. Das half. Immer. Doch nun bin ich mit mehreren Menschen im Stall. Sechs Frauen. Für uns alle ist es das erste Schweigen im Stall, wie sich beim Small Talk vorab herausgestellt hat. Alle sind neugierig auf die Erfahrung. Manche haben Notizbücher dabei, andere eine Decke.
Ich habe den Geruch der Islandpferde in der Nase und lächle. Noch haben die Pferde keinen Zugang zum Heu. Die Pferde stehen ruhig auf den Ausläufen und lassen sich von der Frühlingssonne das Fell wärmen. Als die Raufen sich öffnen, kommt Bewegung in die Herden. Es wird laut. Hufgetrappel, Wiehern, Schnauben, Stuten quietschen. Nüstern tauchen im Heu ab. Die Ersten beginnen zu malmen. Manche rupfen gierig ihre Happen. Andere suchen noch nach ihrem Platz. Die Ranghohen weichen keinen Zentimeter zur Seite, die Rangniederen schieben sich aneinander. Es ist viel los. Spatzen fliegen in den Dachstuhl, zwitschern von oben. Ein dunkelbrauner Wallach duldet kein Pferd neben sich. Er legt die Ohren an, giftet zur Seite. „Uuuuiiiiieeeekk“ tönt es von der anderen Seite des Stalls. Zwei Stuten haben eine Auseinandersetzung. Kurz, laut, intensiv. Alles geklärt.
Ich beobachte die Pferde, drehe meinen Kopf hin und her. Nach einigen Minuten kommt der erste Impuls, nach meinem Handy zu greifen. Geht nicht, ist im Rucksack, Flugmodus an.
Bewegung? Einfach nur sein ist sehr anstrengend
Während es im Pferdestall ruhiger wird, weil jedes Pferd seinen Platz gefunden hat, werde ich unruhiger. Ich möchte mich bewegen, etwas tun, fegen oder so. „Ein- fach nur zu sein ist ganz schön anstrengend“, denke ich. Ein Fuchswallach taucht bis zu den Augen im Heu ab. Ich schmunzle, freue mich und nehme die Präsenz der Pferde wahr. Sie sind im Augenblick. So wie wir Menschen es uns selbst oft wünschen. Und doch ist es – gerade in der heutigen Zeit, wenn die nächste Benachrichtigung auf der Uhr am Handgelenk aufploppt, während die To-do-Liste des Tages schon wieder länger statt kürzer geworden ist – häufig so schwer. Einfach nur zu sein, während der Kopf rast, ist hart, merke ich in der Stille besonders deutlich.
Abseits des Malmens, in der Sonne dösend: Manche Pferde stehen zwischenzeitlich allein für sich. (© Diana Wahl)
Berufliche Aufgaben, noch nicht geschriebene Geburtstagskarten, anstehende Arzttermine, zu bezahlende Rechnungen – in meinem Kopf ist Krawall und Remmidemmi. Ein Wirrwarr an Gedanken. Die Pferde fressen. Gleichmäßig, ruhig, meist unaufgeregt. Manche wechseln den Platz, andere mümmeln das Heu am Nachbarplatz, wieder andere schnauben laut aus.
Sich in den Fokus nehmen statt andere
Ein Spatz saust an mir vorbei, findet seinen Platz und zirpt laut. Wieder schnaubt ein Pferd. Wie häufig Pferde beim Fressen schnauben, war mir vorher nicht bewusst, erkenne ich. Und schiebe diese Erkenntnis als belanglosen Gedanken weg. Es fällt mir schwer, nicht zu werten. Wenn ich mich auf dem großen Strohballen bewege, zucken die Pferdeohren in meine Richtung. Nicht nur ich beobachte. Ich werde auch beobachtet. Beiläufig zwar, aber sehr bewusst. Ganz getreu dem Fluchtinstinkt des Pferdes. Ich schaue auf die Uhr. Knapp 40 Minuten sind vergangen. Halbzeit – und eine gefühlte Ewigkeit.
Ich bin seit meinem Studium Reitsportjournalistin. Fast 15 Jahre. Einen Termin wie diesen habe ich noch nie gemacht. Zu schweigen statt Fragen zu stellen. Mich selbst in den Fokus zu nehmen statt andere. Es ist ungewohnt, und statt einfach zu sein, frage ich mich, wie diese Geschichte aussehen wird. Ablenken ist leicht. Mein Blick fällt auf ein Islandpferd, das abseits steht, allein in der Sonne dösend. Die Augen sind halb geschlossen.
Jeder hat andere Erwartungen vom Coaching
Es sind drei große Strohballen, auf die wir Schweigenden uns verteilt haben. Ich beobachte, wie die anderen sich verhalten. Während manche mit aufmerksamem Blick die Pferde beobachten, macht Uschi sich Notizen. Später wird sie von ihren Beobachtungen der Körpersprache der Pferde berichten, davon, wie sie einander Platz machen oder auch nicht. Es sind Schilderungen, die sie auf ihren persönlichen Kontext überträgt. Janina Budde hebt den Blick derweil langsam, schaut nach oben ins Licht, atmet tief ein und aus. Jede von uns begegnet den Pferden und der Situation auf ihre Weise.
Die Pferde fressen. Ihre gespitzten Öhrchen verraten, dass sie ihre Umgebung dabei aufmerksam beobachten. (© Diana Wahl)
Jede kommt mit anderen Erwartungen, Aufgaben und Zielen zu einem Coaching wie diesem. Und das ist okay. Es geht nicht darum, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Ein seltenes Erlebnis in unserer Gesellschaft. Ein Moment der Ruhe, den wir uns alle so einfach selbst schaffen könnten. Aber wann haben Sie das letzte Mal auf einer Parkbank gesessen und einfach nichts gemacht?
Gedanken werden ruhiger und fokussierter
Die entspannte Atmosphäre überträgt sich langsam auf mich. Meine Gedanken werden ruhiger, fokussierter. Die Zeit vergeht gefühlt nun schneller. Es ist nicht mehr anstrengend, sondern angenehm. Ich genieße die besondere Atmosphäre, das Gemisch aus Ruhe und natürlichen Geräuschen. Die Fütterungszeit endet. Die Raufen schließen sich automatisch wieder. Ich höre, wie die Pferde sich wieder in Bewegung setzen. Weg von der Futterraufe, hin zu ihrem Platz auf dem angrenzenden Auslauf. Zeit für uns, wieder im Hier und Jetzt anzukommen, das Schweigen zu brechen. Ich lächle, wie ich später auf den Fotos sehen werde, welche die Fotografin Diana Wahl während des Seminars gemacht hat.
Es gibt eine Abschlussrunde, die Teilnehmerinnen berichten, wie sie die Zeit empfunden haben. Für manche war es pure Entspannung, für andere anstrengend. Wir gehen gemeinsam zurück zum Hauptgebäude des Hofes, langsam, vorbei an den ausladenden Wiesen des Hofes. Janina Budde verabschiedet alle Teilnehmerinnen herzlich, bedankt sich bei ihnen, an dieser Auszeit teilgenommen zu haben. Ich bleibe noch. Denn jetzt kommt der klassische journalistische Teil: das Interview. Bei Sonne, Schokoladenkuchen und Kaffee. Das vertraute Leben.
Es gibt kein Richtig oder Falsch
„Ich mache das Angebot. Was ein jeder daraus macht, ist ihm überlassen. Ich maße mir nicht an, anderen Men- schen zu sagen, was sie machen müssen. Manchen tut es gut, Druck rauszunehmen, andere brauchen genau diesen Druck in der ein oder anderen Lebensphase“, sagt Janina Budde. Für manche sei Sport das Ventil, um den Kopf zur Ruhe kommen zu lassen. Anderen täte die Ruhe gut und die lockere Vorgabe. Es gebe kein Richtig oder Falsch, nur ein Individuell. „Früher hätte ich mich gezwungen, stundenlang zu schweigen in einem ruhigen Raum. Heute gehe ich sanfter mit mir um“, schildert sie ihre persönlichen Erfahrungen.
Mit den Pferden zu schweigen, in ihren Raum einzutauchen, biete die Möglichkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, aber auch einfach nur zu beobachten. „Wenn wir mitten in einer Pferdeherde sitzen, wird schnell klar, dass wir nicht das Maß aller Dinge sind. Jeder Mensch ist ein Teil des Ganzen“, sagt Janina Budde. „Jeder Mensch empfindet das Schweigen anders und zieht genau das heraus, was er gerade braucht. Manche beziehen es auf ihren beruflichen Kontext, andere auf persönliche Fragestellungen. Alles ist möglich. Durchatmen sowieso.
Die Pferde fressen, die Menschen schweigen. Es ist ein gemeinsames Sein, ohne etwas zu wollen. Das nimmt Druck weg. Denn die Dinge nehmen einfach ihren Lauf, unabhängig davon, ob ich da bin oder ein anderer Mensch dort sitzt oder keiner. Die Pferde befriedigen ihre Bedürfnisse, so oder so.
Können Pferde überhaupt schweigen?
Nein. Pferde kommunizieren über Körpersprache, aber auch über Laute wie Brummeln, Wiehern oder Quietschen – jede Lautäußerung hat dabei ihre Bedeutung. Mit der Zeit lernen sie, Stimmlagen und Tonhöhen bestimmten Pferden und Situationen zuzuordnen – etwa bei Rufen zwischen Mutterstute und Fohlen. Noch wichtiger ist jedoch ihre Körpersprache. Manche Signale sind ganz fein, etwa eine angespanntere Muskulatur, ein etwas abgesenkter Kopf oder eine Veränderung der Atmung.
Janina Budde
leitet den Reiterhof Budde, ist Business-Coach, alleinerziehende Mutter, hat einen Master- abschluss in Komparatistik, ist Box-Trainerin und reitet. Sie bietet Coachings für Einzelpersonen und Firmen an. (© Diana Wahl)
Andere Signale wirken grob, wie Bisse und Tritte. All diese Signale beeinflussen das Verhalten der Pferde untereinander. Pferde lernen ihre Sprache im Herdenverband. Da Körpersprache einen Großteil der Kommunikation der Pferde ausmacht, beobachten sie als Herdentiere ihr Gegenüber intensiv. Sie lesen dessen Körpersprache, ordnen sie ein und verhalten sich entsprechend.