Der Ruf nach Harmonie im Umgang mit dem Pferd ist lauter denn je. Was bedeutet Harmonie und wie entsteht sie eigentlich? Wir haben Reiter, Ausbilder und Richter gefragt.
Es ist der siebte der „Ethischen Grundsätze des Pferdefreundes“, die die Deutsche Reiterliche Vereinigung vor exakt 30 Jahren herausgegeben hat: „Ziel jeder Ausbildung ist die größtmögliche Harmonie zwischen Mensch und Pferd.“ Harmonie. Die Sehnsucht danach könnte größer kaum sein. Doch was bedeutet Harmonie überhaupt?
Für die internationale Dressurrichterin Ulrike Nivelle ist Harmonie „die ideale Partnerschaft zwischen Reiter und Pferd. Beide ergänzen sich wie selbstverständlich, das Pferd reagiert auf feine Hilfen – losgelassen und in Balance. Für mich zeigt sich Harmonie in einer natürlichen Selbsthaltung, Leichtigkeit und Balance und vor allem in einem zufriedenen Pferd.“
Harmonie ist kein Zufall
Und Springreiter Philip Rüping, der unzählige Pferde von jung an bis in den großen Sport ausgebildet hat, sagt: „Harmonie ist der Grundbaustein für alle Leistung – für Vertrauen und dafür, dass sich etwas aufbaut und entwickelt.“ Diese besonderen Momente, in denen ein Pferd dem Menschen ohne große Gesten, ohne starke Zeichen, ohne laute Worte, ohne sichtbare Hilfen folgt – am Boden oder im Sattel –, faszinieren jeden, der mit Pferden arbeitet. Dabei ist Harmonie kein Zufallsprodukt. Sie entsteht durch Beziehung, Vertrauen, Kommunikation und innere Haltung.
Und: Sie beginnt weit vor dem ersten Aufsitzen – beim Holen von der Koppel, beim Putzen, beim Führen. „Im Sattel gibt es keine Harmonie ohne ihre Voraussetzung: Losgelassenheit“, sagt die auf Pferdeverhalten spezialisierte Trainerin Linda Weritz. „Ich als Reiter habe die volle Verantwortung, beginnend von der Anpaarung über die Aufzucht bis hin zu den Ausbildungsmethoden und Haltungsbedingungen, die Losgelassenheit meines Pferdes stets als höchstes Ziel im Blick zu haben.“
Harmonie: Ein fortwährendes Streben
Harmonie kommt nicht von selbst, sagt Ulrike Nivelle, die selbst Pferde bis Grand-Prix-Niveau ausgebildet hat. „Sie entsteht durch eine sorgfältige, respektvolle, einerseits systematische, andererseits individuell auf das Pferd abgestimmt Ausbildung. Und sie ist das fortwährende Streben nach Stimmigkeit und Vollständigkeit. Es ist eine never ending story.“
Harmonie heißt auch, dass sich Pferd und Mensch aufeinander verlassen können – selbst dann, wenn es einmal schwierig wird und schnell gehen muss, wie im Parcours oder im Cross. Die Grundlage dafür legt der gute Ausbilder früh: „Gerade bei jungen Pferden muss man auf der einen Seite Freiheiten lassen, aber auch Grenzen setzen“, erklärt Philip Rüping. „Wenn beide sich darüber im Klaren sind, wo die Grenzen verlaufen, verstehen sich Reiter und Pferd blind. Ein Außenstehender kann die Einwirkung des Reiters gar nicht mehr sehen.“
Harmonisch miteinander
Zentral ist dabei die innere Haltung des Menschen. Pferde spüren unsere Stimmung sofort – selbst, wenn wir glauben, äußerlich ruhig zu wirken. Wer ungeduldig oder gestresst ist, sendet widersprüchliche Signale. Darum beginnt harmonisches Arbeiten oft mit Selbstreflexion: Wie trete ich meinem Pferd gegenüber? Bin ich präsent im Moment?
„Durch stete Achtsamkeit meines eigenen emotionalen Zustands und die Fähigkeit, die eigene Gestimmtheit und Energie gezielt steuern zu können und sie auf die momentanen Bedürfnisse des Pferdes abzustimmen, schaffe ich die Basis für gemeinsame harmonische Flow-Erlebnisse“, erklärt Linda Weritz. „Diese Harmonie, den gemeinsamen Fokus und kongruente Energie kurz- und langfristig zu ermöglichen, ist die Erfolgsformel dafür, das volle Potenzial meines Pferdes erblühen zu lassen.“
Dabei ist auch die Körpersprache entscheidend. Pferde kommunizieren nonverbal – sie achten auf Spannung, Atmung, Blickrichtung. Eine ruhige, klare Ausstrahlung gibt Sicherheit. Wer gedankenlos das Handy checkt oder beim Putzen plaudert, sendet andere Signale als jemand, der dem Pferd volle Aufmerksamkeit schenkt. Im Sattel zeigt sich Harmonie in gemeinsamer Balance – körperlich wie mental.
Verständnis schaffen
Für Dressurausbilder Sebastian Heinze ist die Skala der Ausbildung dabei zentral: „Wenn ein Pferd richtig ausgebildet wird und es versteht, was der Reiter von ihm erwartet, und so auf feinere Hilfen reagiert, entsteht Harmonie. Die Einhaltung der Ausbildungsskala ist wichtig, damit das Pferd überhaupt ein Verständnis für seine Aufgaben entwickelt. Von der Dressurpferde A, wo alles im Arbeitstempo geritten wird, über Dressurpferde L mit lediglich beginnender Versammlung und dann erst weiter in die Klasse M und darüber hinaus – das sind alles logische Schritte. Und sie brauchen Zeit.“ Und noch etwas hat er beobachtet: „Reiter, die selbst in einem harmonischen Umfeld leben, schaffen das meist auch mit dem Pferd.“
Eine, die viele harmonische Runden mit ihren Pferden abliefert, ist Dressurreiterin Greta Heemsoth. Ganz gleich, ob sie dabei beim Bundeschampionat an den Start geht oder im Grand Prix, hat die Bereiterin von der Hengststation Pape vor allem eines im Fokus: Harmonie. „Es ist unheimlich wichtig, dass die Pferde Vertrauen zum Reiter haben und gerne machen, was wir mit ihnen probieren zu erreichen. Sie müssen verstehen, was sie machen sollen. Wenn man versucht, das mit Ruhe zu vermitteln, geben sie immer ihr Bestes.“
Voll und ganz beim Pferd und im Moment zu sein, ohne Ablenkung, ist ein wichtiger Schritt in Richtung Harmonie. (© Jacques Toffi)
Die eigenen Schwächen kennen
Harmonie lässt sich nicht erzwingen. Wer zu viel auf einmal will, überfordert das Pferd. Missverständnisse entstehen: „Ich weiß nicht, was du meinst“ oder „Mein Körper kann das noch nicht“ ist meist die wahre Botschaft hinter vermeintlichen Widersetzlichkeiten. Womit wir noch einmal auf die eigenen Emotionen zu sprechen kommen. Denn Angst, Druck und Frust übertragen sich aufs Pferd.
Harmonie bedeutet auch: Sich selbst zu kennen und zu akzeptieren – mit allen Stärken und Schwächen. Und manchmal heißt es auch, einen Kompromiss einzugehen – mit dem Pferd oder mit sich selbst. Harmonie ist kein statischer Zustand. Sie ist eine never ending story, wie Ulrike Nivelle sagt, also ein Prozess. Und sie ist arbeitsintensiv – sie erfordert ein ständiges Beobachten, Fühlen, Anpassen und Hinterfragen. Gerade darin liegt ihre Herausforderung und am Ende ihre Schönheit.
Studie: Wie nehmen wir Harmonie im Pferdesport wahr?
Jeder spricht darüber: Harmonie zwischen Reiter und Pferd. Aber was bedeutet das eigentlich? Worauf achten wir, wenn wir beurteilen, ob ein Paar harmonisch miteinander agiert? Und sehen Richter, Trainer und Reiter dasselbe? An der Van-Hall-Larenstein-Hochschule in den Niederlanden erforscht ein Team um Prof. Dr. Inga Wolframm, wie Pferdemenschen Harmonie in verschiedenen Pferdesport-Disziplinen wahrnehmen – darunter Dressur, Western, Islandpferde, Vielseitigkeit, Springreiten und Working Equitation.
Die Wissenschaftler wollen herausfinden, welche Details ins Auge fallen, welche visuellen „Shortcuts“ Experten nutzen und wie dies die Bewertung und Vergabe von Noten beeinflusst. Mithilfe von Eye-Tracking-Technologie untersuchen sie, wohin die Augen wandern, wenn ein Mensch eine Pferd-Reiter-Kombination beurteilt. Es geht darum zu verstehen, welche Aspekte der Kombination ein Urteil am stärksten beeinflussen. Sobald die Ergebnisse feststehen, werden wir hier auf hooforia.com darüber berichten.