Durch den häufigen Einsatz von Zügel- und Schenkelhilfen geraten die Sitzhilfen immer mehr in Vergessenheit. Doch sie sind wichtig, damit Pferd und Reiter eine harmonische Einheit bilden können und zu mehr Leichtigkeit finden.
Sie sind vom Fahrrad gestürzt, das nun kaputt ist. Daher geben Sie es zu einem Zweiradmechaniker, der genau weiß, was zu tun ist. Mit ihm zusammen arbeitet ein Physiker, der jede Bewegung eines Fahrrades exakt berechnen und simulieren kann. Nach der Reparatur bitten Sie den Mechaniker, Ihr Fahrrad eine Runde über den Hof zu fahren, da Sie es aufgrund einer Verletzung durch den Sturz nicht selbst ausprobieren können. Doch der Mechaniker, der ja genau weiß, wie ein Fahrrad funktioniert, kann sein Gleichgewicht nicht halten. Ähnlich geht es dem Physiker. Bloße Theorie reicht eben nicht aus, um in Bewegung zu kommen und zu bleiben. Beim Reiten fallen wir nicht sofort aus dem Sattel, wenn wir bereits im Stehen Probleme mit dem Gleichgewicht haben. Wäre das der Fall, würden wahrscheinlich viel mehr Menschen von Anfang an mit Sitzhilfen reiten.
Mit Sitzhilfen reiten: Zwei wichtige Prinzipien
„Die meisten Reiter wissen heutzutage sehr viel über das Reiten, über Zügelhilfen, Schenkelhilfen und Lektionen, aber sie können sich nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, ein Pferd nur mit Sitzhilfen in alle Lektionen zu führen“, schreibt Dr. Brigitte Kaluza in ihrem Buch „Reiten nur mit Sitzhilfen“. Sie hat sich intensiv damit beschäftigt, wie die Körper von Reiter und Pferd miteinander wechselwirken und wie der Reiter seinen Rumpf und sein Gesäß zur Kommunikation mit dem Pferd einsetzen kann.
Beim Reiten schwingt nicht nur der Körper des Pferdes, sondern auch der des Reiters. Diese gegenseitige Übertragung der Körperschwingungen ist das erste Prinzip, auf dem das Reiten nur mit Sitzhilfen basiert. Das zweite Prinzip ist die gegenseitige, meist unbewusst erfolgende Körperwahrnehmung. Warum Sie bisher eher wenig oder noch nichts vom Reiten mit Sitzhilfen gehört haben, kann daran liegen, dass es häufig unbewusst (im Kindesalter oder auch später) erlernt wird.
Standen lange Schenkel- und Zügelhilfen im Vordergrund, können die moderne Naturwissenschaft und die Gehirnforschung mittlerweile erklären, wie Reiten nur mit Sitzhilfen funktioniert. Dazu ist es wichtig, die Biomechanik der Körperschwingungen von Pferd und Reiter zu verstehen, sich die Kommunikation über Körperwahrnehmung bewusst zu machen und so das Reiten in Bewegungssymbiose mit dem Pferd bewusst zu erlernen. Ein spannender Weg, der Ihnen ein neues Reitgefühl schenken kann.
Dr. Brigitte Kaluza ist promovierte Biologin und reitet seit ihrer Kindheit. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit allen Aspekten des Reitens, der Pferdebewegung sowie der Pferdegesundheit und analysiert die wissenschaftliche und historische Literatur zu diesen Themen. Ein Forschungsteam von drei Pferden unterstützt sie dabei. In ihrem Buch „Reiten nur mit Sitzhilfen“ erklärt sie mithilfe der modernen Naturwissenschaft, wie die Kommunikation beim Reiten nur mit Sitzhilfen gelingen kann. Cadmos, 208 Seiten, ISBN: 978-3-8404-1088-8, 29,95 Euro. (© Cadmos Verlag)
Im Sattel auf Fühlen umschalten
In vielen Lehrbüchern werden ganz genau die Positionen der Zügelfäuste oder der Schenkel sowie deren Bewegungen beschrieben. Eine gute Anleitung zum Reiten? Theorie ist immer wichtig, aber in der Praxis fehlt ein wichtiger Teil: Wir können nicht jedes Pferd nach Schema F reiten, und wir nehmen eben auch durch unsere Rumpfbewegungen beziehungsweise durch eine Neuausrichtung unserer Körperachse Einfluss auf die Bewegung sowie den Bewegungsfluss des Pferdes.
Perfekt platzierte Hände und Schenkel bei einem festen Becken blockieren das Pferd, auch wenn die äußere Haltung des Reiters lehrbuchhaft wirkt. Es darf nicht vergessen werden, dass zwei Lebewesen, genauer gesagt zwei Wirbeltiere, aufeinandertreffen, die ihren eigenen persönlichen Bewegungsradius haben. Wenn Sie sich auf Ihre Hände oder Beine konzentrieren, werden bestimmte Areale in Ihrem Gehirn aktiv, die dafür sorgen, dass eine bewusste Steuerung immer Priorität hat. Will heißen: Sie werden nicht mehr in der Lage sein, Ihr Pferd zu fühlen oder es über Ihre Sitzhilfen gezielt zu beeinflussen.
Nun ist es gar nicht so einfach, auf das Programm „Fühlen“ umzuschalten. Was Kindern noch leicht fällt, wird für Erwachsene eine echte Herausforderung. Als Verstandsmenschen erzogen, verlieren wir mehr und mehr die Unbefangenheit eines Kindes. Gleichzeitig wächst unser Risikobewusstsein und der Drang danach, immer alles unter Kontrolle haben zu müssen.
Komponist und Dirigent beim Reiten mit Sitzhilfen
Das Gehirn ist ein komplexes, unglaublich leistungsbereites Organ. Den Ton gibt der bewusste Verstand in der Großhirnrinde an. Er ist der Komponist und hat gern das Wort. Doch dann gibt es da noch das Kleinhirn, das als innerer Dirigent fungiert. „Es wird versuchen, jegliche Komposition mit dem Orchester einzustudieren“, so Dr. Brigitte Kaluza.
Kleinhirn an Kleinhirn: komponieren!
„Haben wir es versäumt, das Reiten als Kinder zu erlernen, müssen wir mit unserem bewussten Verstand eine Komposition erschaffen, die nicht nur von unserem Kleinhirn in die Bewegung eines reitenden Menschen umgesetzt werden kann, sondern auch vom Kleinhirn unseres Pferdes verstanden werden kann.“ – Dr. Brigitte Kaluza –
Dazu ist es wichtig zu wissen, dass das neuronale Steuerungsteam beim Pferd wie beim Menschen funktioniert. Geben Sie einen isolierten Druck mit dem Schenkel oder eine Zügelhilfe, trifft dies als sensorische Meldung in der Großhirnrinde des Pferdes ein. Dort wird sie verstanden – oder eben auch nicht. Dann wird das Signal entsprechend umgesetzt. Ein Pferd, dass nur damit beschäftigt ist, Signale der Zügel und Schenkel zu verarbeiten, kann damit unter Umständen regelrecht überfordert sein.
Überforderung durch zu viele Signale
Bestimmte Situationen begünstigen das: Denken Sie an einen Reiter mit einer unruhigen Hand, der eine Traversale reiten möchte. Er gibt dem Pferd über den Zügel ständig Signale und versucht, es mit Hand und Bein „rüberzuschieben“. Dabei vergisst er völlig, sein eigenes Gewicht zu verlagern und gleichzeitig auch die Bewegungen des Pferdes über eine bewegliche, mitschwingende Mittelpositur durchzulassen. Das Pferd kann sich zudem nicht locker bewegen, wenn es vorne durch die Zügel festgehalten oder mit dem Bein geklemmt wird.
Fällt Ihnen auf, dass in dieser Lektion auch das Lob völlig fehlt? „Eine synchrone Bewegung mit dem Pferd ist nur dann möglich, wenn die beiden Dirigenten direkt über die unbewusste Propriozeption zusammenarbeiten, wenn also Mensch und Pferd ihre Rumpfbewegungen koppeln“, betont unsere Expertin. Es kommt also auf die Synchronisation mit der Pferdebewegung an.
Aliens auf Pferderücken: So lernen Pferde
„Was für ein Alien sitzt denn da auf meinem Rücken?“, muss sich so manches Pferd denken, wenn es das erste Mal geritten wird. Auf einmal prasseln zahlreiche Signale über die Zügel, also die Hände des Reiters und die Schenkel, auf es ein. Ganz schön viel zu verarbeiten! Meist wird das Lernmodell der klassischen Konditionierung herangezogen, damit das Pferd etwas lernt.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Jungpferd und möchten ihm beibringen, auf Schenkeldruck vorwärtszugehen. Dann muss zunächst etwas im Gehirn des Pferdes passieren, das Sie nicht sehen: Es muss eine Assoziation zwischen einer spontanen Aktivität (Vorwärtsgehen), einem Signal (Schenkeldruck) sowie einer positiven Verstärkung (z.B. Lob durch Stimme) stattfinden. Erst durch die positive (oder in manchen Fällen auch negative) Verstärkung gewinnt das Signal für das Pferd sehr an Bedeutung, sodass es im Gedächtnis zusammen mit den assoziierten Eindrücken gespeichert wird.
Beim Thema Vorwärtsgehen wird meist nicht allzu lange auf ein spontanes Verhalten des Pferdes gewartet, sondern die Bewegung wird durch einen bestimmten Reiz wie eine Stimmhilfe oder von der Gerte (oft auch durch eine Hilfsperson) ausgelöst. Mit geschickt aufgebautem Training und Geduld können Sie beliebige Signale mit erwünschten oder unerwünschten Aktivitäten des Pferdes assoziieren.
Sitzhilfen geben: Kommunikation über Körpersprache
Pferde sind uns in Bezug auf ihre Körperkraft um ein Vielfaches überlegen. Wir benötigen also gewisse konditionierte Signale für einen sicheren Umgang. Dazu gehören eben auch Zügel- und Schenkelhilfen. Doch wie bringen Sie Ihrem Pferd auch noch bei, sich synchron mit Ihnen als Reiter zu bewegen? „Wir brauchen Anweisungen oder Befehle in Form konditionierter Hilfen, um als Menschen mit einem Pferd auch dann eindeutig kommunizieren zu können, wenn das Pferd abgelenkt, aufgeregt oder an anderen Dingen interessiert ist. Befehle sind allerdings kein Ersatz für Kommunikation. Daher stellt sich die Frage, wie Kommunikation zwischen zwei Wirbeltieren ganz grundlegend funktioniert“, erklärt Dr. Kaluza.
Pferde können lernen, unsere Körpersprache auch dann zu lesen, wenn wir auf ihrem Rücken sitzen und sie uns nicht sehen. Ganz schön faszinierend, oder? Generell kommunizieren Pferde als hoch soziale Lebewesen fast ausschließlich über Körpersprache. Dabei können sie sich sehr differenziert ausdrücken und sind gleichzeitig begabte Beobachter von Körpersprache, zum Beispiel der von uns Menschen.
Körpersprache kommuniziert nach außen
Ursprünglich und primär war Körpersprache etwas, das innerhalb des Körpers stattfindet. Sozusagen im Team der neuronalen Steuerkreise. Doch im Laufe der Evolution wurde es zum Überleben immer wichtiger, dass andere Artgenossen, aber auch Feinde Signale über die Körpersprache erhalten.
Fische sind ganz genaue Beobachter: Sie stimmen ihr Verhalten so aufeinander ab, dass sie in Schwärmen und Formationen schwimmen können. Ähnlich machen es Vögel, wenn sie in Schwärmen fliegen. Was denken oder fühlen andere Individuen derselben oder einer anderen Art? Körperhaltung, Mimik und Gestik verraten hier einiges. Eine Besonderheit bei uns Menschen ist der so differenziert bewegliche Stimmapparat, der unsere Sprache ermöglicht.
Synchronisation mit dem Trainingspartner
Wir können die Körpersprache unseres Pferdes jedoch nicht nur beobachten, sondern auch erfühlen. Sowohl beim Gehen als auch beim Reiten entstehen ähnliche Bewegungen – sogenannte Taumelachsenbewegungen – des menschlichen Beckens. Gleichzeitig ist es die Verbindungsstelle zum Pferderücken und wird oft in seiner Wirkung als Kommunikationszentrum unterschätzt. Fortbewegung ist ein unbewusster Vorgang. Sie denken in der Regel nicht darüber nach, wie Sie ein Bein vor das andere setzen.
Die elastischen Schwingungen des gesamten Körpers werden dabei von Gangmuster-Schaltzentren im Rückenmark sowie vom Kleinhirn kontrolliert. Wird bewusst in diese Abläufe eingegriffen, ist das eine Störung. Auf das Reiten übertragen heißt das, dass wir den Bewegungsablauf und -fluss durchaus durch unsere Hilfengebung stören können. Daher ist es so wichtig, sich mit den Körperschwingungen des Pferdes zu synchronisieren.