Gewalt gegen Pferde beginnt oft unbemerkt – mit Druck, Überforderung, falschem Ehrgeiz. Doch wo liegen die Grenzen? Und was passiert, wenn Mensch und System versagen?
Es beginnt oft schleichend. Ein ruppiger Zügelruck. Ein kurzer Moment der Überforderung. Ein unkontrollierter Impuls. Eine Reaktion, die schneller ist als der Gedanke. Gewalt hat viele Gesichter, auch im Reitsport. Sie beginnt mit Grenzüberschreitungen, geht über Machtmissbrauch bis hin zur Eskalation. Wenn ein Profireiter in kürzester Zeit stoisch über 40 Mal mit der Gerte auf ein Pferd einschlägt, wie im Fall des australischen Olympiareiters Heath Ryan. Oder wenn ein Reiter auf dem Abreiteplatz eines ländlichen Turniers sein Pferd bei jedem Schritt mit gröbster Handeinwirkung nach links und rechts riegelt, und dabei eine Begleitperson nebenherläuft und den Reiter in seinem Handeln – so lässt es die Videoaufnahme vermuten – auch noch bestärkt. Und so stellt sich die Frage: Wann und warum verlieren Menschen im Sattel die Kontrolle? Über das Reiten, aber vor allem über sich selbst. Was bedeutet Gewalt am Pferd wirklich?
Die Antwort liefert keine Reitlehre, sondern die Reaktion der Tiere. Pferde lügen nicht. Wer hinsieht und ihm auf diese Weise auch bewusst zuhört, wird im Ausdrucksverhalten des Pferdes allerhand erkennen können. Unmittelbar zeigt es, ob es sich wohlfühlt, gestresst (positiv wie negativ) oder frustriert ist. Dauerfrust und ständiger negativer Stress führen schlimmstenfalls zur erlernten Hilflosigkeit. „Wie bei Nico, dem Pferd, das mit Heath Ryan in dem Skandalvideo zu sehen ist (siehe auf unserem Instagram-Kanal @hooforia.official).
„Das ist ein Pferd, das sich komplett innerlich aufgegeben hat“, kommentiert die Kommunikations- und Verhaltensexpertin Linda Weritz. „Das Pferd ist geistig und vom Gefühl her ausgestiegen“. Und die Dressurausbilderin Kerstin Gerhardt erklärt: „Das Pferd bewegt keinen Muskel mehr, es ist katatonisch. Als ob es einen Au- tismusanfall bekommen hätte. Wenn du ein Pferd mit Gewalt zum Laufen bringst, ist es gebrochen – innen.“
Bedenklich: Kontrollverlust aufseiten des Menschen bleibt nicht unerkannt oder wird sogar legitimiert. „Gewalt ist nicht immer Wut“, erklärt Prof. Kathrin Schütz, Wirtschaftspsychologin und Coach. „Sie kann auch Routine sein. Oder eine Reaktion auf Druck.“ Gerade im Leistungssport verschwimmen die Linien. „Sobald Geld im Spiel ist, ist es nicht unbedingt Kontrollverlust, sondern oft: Ich muss jetzt performen auf Biegen und Brechen.“ Aus Sicht von Linda Weritz steht hinter einem Gewaltexzess im Reitsport oft Erfolgsdruck, Geltungsbedürfnis oder wirtschaftlicher Anreiz. Hinzu komme, dass Trainer und Reiter durch Vertragssysteme, soziale Kontrolle oder Angst vor Repressionen zum Schweigen gebracht würden.
Wut im Sattel: Warum entstehen Grenzüberschreitungen?
Doch viele Grenzüberschreitungen entstehen auch, weil Menschen ihre Emotionen nicht regulieren können. „Wir hatten mal einen Kurs zur emotionalen Intelligenz. Da ging’s um die Emotionsampel: halt, stopp, einatmen, aus- atmen, dann handeln. Diese Ampel hing danach bei vielen Teilnehmern monatelang in der Reithalle.“
Am Ende ist der Umgang mit eigenen Fehlern entscheidend. Das Stichwort lautet Selbstreflexion. „Menschen wollen ihr inneres Gleichgewicht wiederherstellen. Und entweder gestehen sie sich etwas ein, oder sie reden es sich schön“, erklärt Kathrin Schütz. Sie spricht von „kognitiver Dissonanz“: Wer das eigene Verhalten nicht mit dem eigenen Selbstbild in Einklang bringen kann, wählt den bequemeren Weg: „Dann war’s halt das Pferd. Oder der Turnierdruck. Oder, oder, oder …“
Manche Pferde sind schon in einer Negativspirale
Dieser Druck wird nach unten weitergegeben: an Bereiter, an Ausbilder, an junge Reiter. „Die jüngeren Reiter eifern dem Ganzen nach“, sagt Kerstin Gerhardt. Ein Problem seien auch die Besitzer, wenn sie ihre Pferde in Ausbildung geben. Das Ganze spitzt sich dann zu, wenn ein Pferd bereits in eine Negativspirale geraten ist, widersetzlich ist, falsch ausgebildet wurde oder sich gar schon aufgegeben hat. „Die Kunden bezahlen dann eine Korrektur. Die Kunden bezahlen aber keine Redressur, denn eine Redressur würde deutlich länger dauern“, sagt Kerstin Gerhardt und meint mit der Redressur, das Fundament der Ausbildung bei dem Pferd komplett neu aufzubauen.
Kaum ein Reiter wird sich davon freisprechen können, selbst schon mal zu hart mit einem Pferd umgegangen zu sein. Viele schämen sich im Nachgang, weil sie keinen anderen, keinen gewaltfreien Weg gefunden haben. Ganz gleich, ob die Gewalt aus Unwissenheit, aus Gedankenlosigkeit oder Überforderung entstanden ist.
Problematisch ist es, wenn sich die Grenzen verschieben. Wenn Druck und Gewalt aus Zeit- oder Geldgründen zum „neuen Normal“ werden. „Ich glaube nicht, dass sich diese Reiter dann noch schämen“, sagt Linda Weritz. „Die waren in dem Moment überfordert. Oder sie machen das eh immer so. Am Ende konstruieren die Täter noch Rechtfertigungen oder verschieben die Schuld: ‚Die, die mich gefilmt haben, sind die eigentlichen Täter.‘“
Umfeld wird Teil der Gewaltspirale
Die Eskalation einzelner Reiter ist selten isoliert. „Das System lässt es zu. Man schafft sich da seine eigene Welt“, meint Kathrin Schütz. „Und wenn die Pferde immer so behandelt werden, dann erscheint es einem eben irgendwann als normal.“
Hinzu kommt die Angst, Stellung zu beziehen. Aus Sorge, den Job oder die Box für das eigene Pferd zu verlieren. So wird das Umfeld zum Teil der Gewaltspirale: durch Passivität. Oder aber durch das Verstärken fragwürdiger Handlungen: „Jetzt setz dich mal durch!“
Viele Reiter, so Schütz, wählten den bequemeren Weg: Verdrängung. Rationalisierung. Selbsttäuschung. „Menschen sind Meister darin, sich selbst zu veräppeln“, sagt sie. „Wenn die Diskrepanz wahrgenommen wird, haben wir eine kognitive Dissonanz – entweder gestehe ich mir das Ganze ein, und Scham kann die Folge sein, oder ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Wenn ich also der Meinung bin, man muss Pferden mal eins draufgeben, dann ist das kein Problem, und es entsteht keine Scham.“
„Mehr Ethik, mehr Empathie, mehr Erziehung!“
Und wenn man aus seinem eigenen Umfeld keine anderen Handlungsmuster kennt, macht man das, was man kennt. Kathrin Schütz: „Wenn sich alle gegenseitig in ihrerWahrnehmung bestärken, dann verschiebt sich die grüne Zone eben immer weiter.“ Stellt sich die Frage: Wie kann man verhindern, dass Menschen im Umgang mit Pferden die Selbstkontrolle verlieren? Kathrin Schütz plädiert für eine systematische Schulung: Unter anderem müsse die Wahrnehmung der Pferdemimik und -sprache viel mehr geschult werden. „Ich fände es super, wenn es einen verpflichtenden Pferdeführerschein gäbe. So wie beim Hund. Nur haben wir gar nicht die Leute, die das unterrichten könnten.“ Aber sie sagt auch: „Viele denken nicht über sich nach. Es gibt Menschen mit einem hohen Kognitionsbedürfnis, die reflektieren, und andere eben nicht.“ Aus ihrer Sicht sind Vorbilder ein wichtiger Hebel.
„Mehr Ethik, mehr Empathie, mehr Erziehung“, fordert Kerstin Gerhardt. „Wir müssen wieder Gutmenschen werden, weil gute Menschen gehen auch gut mit den Pferden um.“
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