Drei Medaillen hatten Anna-Lena Niehues und Quimbaya bei der Rückreise von ihren ersten Paralympischen Spielen im Gepäck. Den größten Wettkampf hat Anna-Lena bereits Jahre vorher gewonnen. Auf ihrem Weg zurück in ein eigenständiges Leben.
Seit 2017 ist Anna-Lena Niehues querschnittsgelähmt. Mit uns spricht die Paralympics-Reiterin über ihre Tumor-OP und ihre Zeit danach – zurück in den Reitsport.
Silber, Bronze, Bronze – wow! Was ist das für ein Gefühl?
Anna-Lena Niehues: Das, was ich in Paris gezeigt habe, ist das, was ich kann. Ich bin nominiert worden, weil ich auf diesem Niveau mitreiten kann. Das freut mich ungemein. Die Medaillen sind das Bonbon. Ein sehr schönes, zugegebenermaßen. Viel wichtiger ist aber, dass ich heute laufen und meinen Arm bewegen kann. Ich kann reiten, meinen Beruf ausüben. Sehr lange Zeit sah es nicht danach aus. Es war ein langer Weg.
Du hast den wichtigsten Wettkampf deines Lebens also bereits vor ein paar Jahren gewonnen?
Ja. Ich habe lange gegen die Grenzen gekämpft, die mein Körper mir setzen wollte. Ich konnte weder meinen rechten Arm noch mein rechtes Bein bewegen. Ich hatte keinerlei Gefühl in den Gliedmaßen, als ich nach einer schweren Operation aufgewacht bin.
Was war passiert?
An meiner Halswirbelsäule saß ein Tumor, er war nicht bösartig. Ich wusste davon bereits seit einigen Jahren, da er sich nicht verändert hatte und die Ärzte keinerlei Handlungsnotwendigkeit sahen, war ich relativ entspannt. 2017 war er gewachsen. Deutlich gewachsen. So groß, dass die Ärzte meinten, ich müsste schon Ausfallerscheinungen haben. Zum Glück fühlte ich mich gesund, trotz des Dings. Ich habe es nie Tumor genannt, weil damit alle gleich weitere Therapien assoziieren. Bei mir ging es aber wirklich nur um die Entfernung des Dings.
In der alten Gaststätte erinnern Fotos an Anna-Lenas Erfolge und besondere Pferde aus der Zeit vor der OP. (© Stefan Lafrentz)
Anna-Lena Niehues über ihren Tumor
Die Operation war unausweichlich?
Genau. Aber ich konnte mir den Zeitpunkt aussuchen. Ich bin mit meinem jetzigen Mann in den Urlaub gefahren, habe die Ferienkinder auf unserem Hof betreut und erst danach den Operationstermin festgelegt.
Warum war dir das so wichtig?
Ich wusste nicht, was nach der Operation ist. Es war klar, dass alles passieren kann. Schlimmstenfalls hätte ich nicht mehr eigenständig atmen können.
Hattest du Angst vor der Operation?
Ich habe mich nicht verrückt gemacht. Ich bin davon ausgegangen, dass es gut gehen wird.
Wie war es, als du aufgewacht bist?
Ich habe gemerkt, dass ich eigenständig atmen kann und war erleichtert. Und dann habe ich gemerkt, dass mein Körper an meiner rechten Schulter aufhört. Ich konnte meinen Arm nicht mehr fühlen, wusste nicht, wo er ist, konnte ihn aber sehen. Mein Bein konnte ich spüren, aber nicht bewegen. Gar nicht. Doch meine Reflexe im Bein haben funktioniert, an der Hand nicht. Und schon da habe ich mich zurück zu meinen Pferden gewünscht.
Du bist Pferdewirtschaftsmeisterin. Deine Familie betreibt in dritter Generation einen Reitschulbetrieb. Du bist S-Dressuren geritten. Dann warst du in einem abgedunkelten Krankenhauszimmer. Was hast du gedacht?
‚Mein Kopf tut weh. Ich bin müde.‘ Die Operation war sehr lang und ich musste nach 14 Tagen ein zweites Mal operiert werden, weil Liquor aus dem Rückenmark ausgelaufen war. Ich lag auf der Intensivstation und die Zeiger der Uhr im Zimmer standen immer auf der Drei oder der Vier. Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Ich wusste nur, dass ich alles dafür geben werde, meinen Alltag zurückzubekommen.
Wer hat dich in dieser Phase unterstützt?
Ganz besonders mein Mann und zwei sehr gute Freundinnen. Sie waren auch dabei, als ich die ersten Symptome einer Hirnhautentzündung gezeigt habe. Zum Glück haben sie sehr schnell reagiert und die Ärzte informiert. Die Schmerzen werde ich nie vergessen. Und durch diese Komplikationen wurden aus geplanten sieben Tagen im Krankenhaus einundzwanzig Tage. Dann Früh-Reha, dann Reha.
Wie war das?
Ich habe viel um Hilfe fragen müssen. Das kannte ich nicht. Doch was mir angeboten wurde, reichte mir teils nicht. Ich habe mehr gewollt, gemacht, geübt. Das tue ich nach wie vor. Mein Arm hing anfangs wie ein Fremdkörper an mir dran. Nun benutze ich ihn wieder – dank meines Ehrgeizes, guter Therapeuten und eines langen Atems.
Ein Paralympics-Pferd für Anna-Lena Niehues
Seit mehr als sieben Jahren ein Team: Anna-Lena Niehues und Quimbaya. Gemeinsam haben sie drei Medaillen bei den Paralympics gewonnen. (© Stefan Lafrentz)
Während deines Klinikaufenthalts ist dein Paralympics-Pferd Quimbaya in euren Stall gezogen.
Genau und das kam so: Eine Reitschülerin suchte ein Pferd, wollte aber doch warten, als meine Operation dazwischen kam. Ich hatte mir zu dem Zeitpunkt schon alle westfälischen Auktionspferde angeschaut. Quimbaya war zu dem Zeitpunkt noch recht klein, eher unauffällig. Mein Gefühl sagte mir dennoch, es könnte passen und so schickte ich meinen Mann mit einer Bekannten zum Pferde ausprobieren. Er sollte etwas anderes sehen als Krankenhauswände. Quimbaya war das einzige Pferd, das ihnen gefiel. Die gute Nachricht: Nur wir haben auf sie geboten. Und so war sie da, als ich aus der Reha kam.
Und?
Ich wollte sie gerne direkt reiten. Aber das ging natürlich nicht. Ich bin auf einer Fjordstute mit Voltigiergurt wieder angefangen. Das hat mir sehr geholfen. Monate später saß ich das erste Mal auf Quimbaya und war nicht gerade begeistert.
Warum nicht?
Sie war hibbelig, wollte keinen Schritt gehen, wirkte gestresst. Daran haben wir sehr viel gearbeitet.
Was ist ihre größte Stärke?
Sie ist sehr ehrgeizig und dadurch hat sie gelernt, sich so zu bewegen, wie sie es heute tut. Sie hat ein sehr gutes Hinterbein, das durch die Ausbildung gestärkt worden ist. Sie hat mit der Zeit immer mehr Spaß an der Bewegung bekommen. Und die Kulisse in Versailles hat sie sehr genossen. Sie hat sich feiern lassen. So als ob die Kulisse ihr endlich mal angemessen wäre (lacht).
Anna-Lena Niehues: Durch Ehrgeiz zum Erfolg
Was hast du von all dem Trubel um euch wahrgenommen?
Während meiner Ritte habe ich mich voll auf meine Aufgabe konzentriert. Wir haben ein Viereck mit den Maßen 20 mal 60 Meter. Das unterscheidet sich nicht und das gibt Sicherheit. Ehrlicherweise muss ich aber sagen, dass ich beim Einreiten noch gelinst habe, ob ich Freunde sehe. Doch das Stadion war ganz schön voll.
Hat das Quimbaya abgelenkt?
Gar nicht. Die Musik war gut eingestellt. Wir haben von dem Gewusel auf den Tribünen nichts mitbekommen, sondern waren einfach nur beieinander und bei unserer Aufgabe.
Wie stolz macht es dich, Quimbaya bis zur Klasse S im Regelsport ausgebildet und nun drei paralympische Medaillen gewonnen zu haben?
Es freut mich, da ich immer an dieses Pferd geglaubt habe. Sie hat diesen besonderen Ehrgeiz, vielleicht sogar den gleichen Ehrgeiz wie ich, und dadurch sind wir auch so ein gutes Team geworden. Doch die Medaillen haben mein Leben nicht verändert, das hat die Operation. Aber auch die Geburt unserer knapp anderthalbjährigen Tochter. Das Leben ändert sich.
Du warst schon immer ehrgeizig. Wie hat sich dein Reiten durch die Operationsfolgen verändert?
Gar nicht so sehr. Ich habe schon immer die Partnerschaft mit dem Pferd gesucht. Als kleines Mädchen habe ich immer die schwierigen Ponys bekommen, die gut ausgebildeten waren für die Reitschüler. So habe ich gelernt, mit den Pferden zu kommunizieren, mir einen eigenen Weg zu suchen. Ich habe als Kind viel Zeit mit ihnen auf der Koppel verbracht, mich mal auf den Rücken gelegt. Alles spielerisch und dadurch viel von den Pferden gelernt. Mein Ziel war immer das Reiten. Das will und wollte ich stets machen, gut machen. Ich bin ehrgeizig, gebe 120 Prozent. Am liebsten immer. Nur kann ich das heute nicht mehr so wie früher.
Anna-Lena Niehues über das Reiten nach der OP
Bei Anna-Lena auf die Welt gekommen und kann nun im Schatten von Quimbaya langsam in große Aufgaben hineinwachsen: Arteon, genannt Theo. (© Stefan Lafrentz)
Ich renne nicht mehr in meinem Hamsterrad, weil ich es nicht mehr kann. Mal habe ich genug Energie, um drei Pferde zu reiten. Mal nicht. Früher waren es mindestens acht. Das geht nicht mehr. Mein Maßstab war aber immer schon, dem Pferd gegenüber fair zu sein. Die Pferde müssen wissen, was sie gut gemacht haben. Ich lobe viel mit der Stimme, weil es mit der Hand nicht so leicht geht. Und wenn ich einen Fehler mache, was uns allen passieren kann, verzeihen meine Pferde mir den. So wie ich ihnen verzeihe, wenn sie etwas nicht richtig machen. Es geht um gegenseitige Akzeptanz, um eine Partnerschaft, um ein Miteinander.
Was würdest du der zehn Jahre alten Anna-Lena, die als Kind schon so gehandelt hat, heute sagen?
Weiter so.
Weil du einfach das Beste aus dem gemacht hast, was du hattest?
Ja, das prägt mein Leben. Und das würde ich auch heute bei vielen Reitanfängern bemängeln. Wenn etwas nicht klappt, liegt es am Pony oder am Reitlehrer oder oder oder.
Stört es dich, dass so viele Gründe im Außen gesucht werden?
Absolut. Bei mir gibt es zum Beispiel keine faulen Ponys. Nur Ponys, die es dem Reiter leicht und weniger leicht machen. Natürlich ist es schön, wenn das Pony einfach läuft. Aber wann fängt das Reiten an? Wenn ich ein Pony reell an die Hand treiben kann. Und das muss ein Kind lernen.
Beeinträchtigung auch eingestehen
Anna-Lena Niehues geben die Pferde seit jeher Halt. Sie liebt es sie zu fordern und zu fördern, sie bildet Reitschüler und Azubis aus. Die Pferdeliebe hat Oma Marta in die Familie gebracht. (© Stefan Lafrentz)
Bei dir können Kinder reiten lernen. Ihr bietet Ferien und Reitunterricht an. Rund 40 eigene Ponys und Pferde leben hier. Wie schaffst du das?
Unsere kleine Tochter geht seit Kurzem zur Tagesmutter, meine Eltern unterstützen mich noch, wir haben Angestellte und mein Mann hilft mit.
Du reitest im Regelsport erfolgreich. Wie groß war der Schritt für dich, Para-Sportlerin zu werden?
Eine Freundin hat es mir vorgeschlagen. Ich bin zunächst weiter M- und S-Dressuren geritten. Und habe dann festgestellt, dass ich Nachteile habe. Zum Beispiel rutscht mein Fuß im Steigbügel, wenn ich keine Hilfsmittel nutze. Aber man ist nicht vom einen auf den anderen Tag Para-Sportler.
Ist es ein Prozess, sich einzugestehen, dass man beeinträchtigt ist und damit in die Öffentlichkeit zu gehen?
Für mich war es einer. Ich wusste nicht, ob ich behindert genug bin. Es gibt medizinische Tests, nach denen entschieden wird, in welchem Grade wir Para-Reiter starten dürfen. Es gibt genaue Vorgaben, wie groß die Beeinträchtigungen sein müssen.
Wenn du als Para-Sportlerin im Regelsport startest, gibt es da Besonderheiten?
Ich darf Hilfsmittel benutzen. In meinem Fall sind es magnetische Steigbügel, ohne sie rutscht mein Fuß zu weit in den Bügel. Im Vergleich zu Regelsportlern grüße ich nur mit dem Kopf. Denn mir fällt es schwer, die Zügel von der einen in die andere Hand zu nehmen. Das dauert und ist eine echte Fummelei. Das ist in meinem Sportgesundheitspass eingetragen, den ich den Richtern zeige. Manche reagieren darauf so, andere so.
Was heißt das?
Mir wurde schon vorgeworfen, dass ich zum Beispiel durch das Grüßen ohne Hand Vorteile hätte. Da kann ich nur lächeln, denn ich habe weiterhin viele körperliche Nachteile in einer Dressurprüfung.
Anna-Lena Niehues über den Para-Sport
Viel erreicht, weil Vieles gegeben. Und Lust auf mehr i-Tüpfelchen auf ihrer besonderen Lebensgeschichte: Anna-Lena Niehues. (© Stefan Lafrentz)
Gibt es viele Vorurteile gegenüber Para-Sportlern?
Der Para-Sport gewinnt in Deutschland erst jetzt an gesellschaftlicher Akzeptanz. In anderen Ländern ist das ganz anders. Da sind die Para-Sportler echte Helden.
Sollte der Para-Sport mehr Aufmerksamkeit bekommen?
Ja. Und dabei geht es nicht um mich. Die Menschen machen Leistungssport und haben ein Handicap. Das hält sie nicht davon ab, für ihren Traum alles zu geben. Es ist inspirierend, wie alle Para-Sportler den Blick nach vorne werfen und aus ihrem Leben das Beste machen.