„Das sind doch noch Kinder“ heißt es oft, wenn dreijährige Pferde unter dem Sattel gezeigt werden. Bedeutet es, dass die Pferde Stress ausgesetzt sind? Nein, wenn man es richtig macht, oder Prof. Dr. Christine Aurich?
Haben Jungpferde beim Anreiten Stress?
Kurz, ja. Insgesamt ist aber festzuhalten: Pferde nehmen wenig Schaden durch die Arbeit mit den Menschen. Die Ausbildungswege haben sich lange bewährt. Niemand möchte von vornherein das Pferd verschleißen. Ein Pferd ist kein Wegwerfgegenstand. Ziel war und ist, dass die Pferde möglichst lange halten.
Beim Reitpferd und auch beim Rennpferd schadet der frühe Ausbildungsbeginn auch heute nicht, wenn die Tiere gut gemanagt werden. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Pferde gesundheitlich schlechter aufgestellt sind, wenn sie früh, aber moderat in den Sport gehen. Es gibt auch Untersuchungen, die besagen, dass das Fluchttier Pferd eine gewisse Belastung braucht, damit der Bewegungsapparat sich anpassen kann.
Das klingt logisch.
Ja, das ist sinnvoll. Es grassiert auf der anderen Seite das Gerücht, dass man Jungpferde erst anreiten darf, wenn die Wachstumsfugen sich geschlossen haben. Das ist in einem Alter von etwas fünfeinhalb Jahren der Fall und überhaupt kein Kriterium. Auch beim Menschen schließen sich die Wachstumsfugen teils erst in einem Alter von 20 Jahren und mehr. Dennoch machen wir bereits vorher Sport und setzen unseren Körper Belastungen aus. Es gibt dadurch Verschleißerscheinungen. Das ist natürlich. Aber auch, wenn ich nichts mache, kommt es zu Verschleiß. Es geht darum, ein gesundes Maß zu finden. Eine gute, durchdachte Ausbildung sollte im Fokus stehen, nicht nur körperlich gesehen, sondern auch hinsichtlich der Psyche des Pferdes.
Pferde können sich an neue Umstände gewöhnen. Wann tritt dieser Gewöhnungseffekt ein?
Wenn wir Studien zur Ausbildung des Pferdes durchführen, nehmen wir in der Regel einen Zeitraum von zwölf Wochen. Wir beobachten, dass sich die Stressreaktion auf eine Situation deutlich und sehr schnell reduziert. Beim Longieren haben wir im Rahmen des Projekts „HorseWatch“ vom ersten zum zweiten Longieren bereits eine deutliche Reduktion feststellen können. In einer älteren Studie haben wir die Stressreaktion der Pferde auf den Transport gemessen und konnten festhalten: Innerhalb sehr kurzer Zeit gewöhnen sich die Pferde daran.
Geregelte Stressreaktion: Jungpferde anreiten
Unter der Geburt ist die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol bei Stute und Fohlen besonders hoch. (© Adobe Stock)
Cortisol ist ein Stresshormon. Welche Werte haben Sie gemessen?
Die größte Stressantwort zeigen Pferde unter der Geburt, sowohl die Stute als auch das Fohlen. Da liegt der Wert bei der Stute etwa bei 30 Nanogramm Cortisol pro Milliliter – gemessen in Speichelproben, beim Fohlen gar bei 60 Nanogramm Cortisol pro Milliliter. Zum Vergleich: Beim Anreiten kommt die Stute auf einen Wert von fünf bis sechs Nanogramm Cortisol pro Milliliter, Hengste erreichen einen Wert von zwei bis drei Nanogramm Cortisol pro Milliliter.
Warum ist dieses Maß an Stress nicht schädlich?
Der Organismus braucht ab und an ein gewisses Maß an Stress. Das Herz-Kreislauf-System kommt in Schwung. Solche kleinen Stressreaktionen hat ein Pferd im Alltag auch, einfach, wenn es sich erschreckt. Wir sprechen in der Wissenschaft von Eu- und Distress. Ersterer ist physiologisch und bis zu einem gewissen Grad gesund für den Organismus, Distress nicht. Die Grenze zu ziehen, ist nicht einfach. Aus meiner Erfahrung sind die Werte, die wir bei den Pferden gemessen haben, aber dem Eustress zuzuordnen. Die Pferde, die wir zu Beginn ihrer Ausbildung begleitet haben, sind professionell ausgebildet worden. Im Haupt- und Landgestüt Neustadt/Dosse wird das Jungpferde Anreiten von ausgebildeten Pferdewirten übernommen. Sie haben viel Erfahrung. Werden die Pferde nicht so professionell gemanagt, können die Ergebnisse anders aussehen.
Prof. Dr. Aurich über die Zugabe von Regumate
Wer mit jungen Pferden ruhig und fachkundig umgeht, gibt ihnen Sicherheit. Das mindert den Stress beim Anreiten. (© Slawik)
Gibt es einen Unterschied zwischen Stuten und Hengsten?
Ja, auch Männer und Frauen haben unterschiedliche Stressreaktionen, das hat etwas mit unseren Reproduktionshormonen zu tun. So ist es auch bei den Pferden. Die Stuten zeigten stärkere Reaktionen. Auffällig war, dass Stuten, die das Mittel Regumate bekommen, deutlich weniger Stresshormone freisetzen. Es hat eine anabole Wirkung und die Stuten ähneln vom Hormonhaushalt dann so – überspitzt gesagt – eher einem Hengst.
Raten Sie dazu, Jungstuten für die Zeit des Anreitens Regumate zu geben?
Nicht generell. Das Mittel birgt auch ein Risiko für den Menschen, der es anwendet. Zudem ist es ganz gewiss nicht bei jedem Pferd nötig. Wenn die Stuten sehr gestresst sind, kann das Mittel eine Option sein, zeitweise den Stress zu nehmen. Die Indikation muss aber klar gegeben sein. Dann ist es für einen limitierten Zeitraum in Ordnung.
Stress durchs Training: Jungpferde anreiten
Wenn Jungpferde aus ihrer Herde genommen werden, haben sie zunächst einmal Stress. Sie können sich aber gut an die neue Situation anpassen. (© Lafrentz)
Einige Turnierpferde bekommen das Mittel über einen längeren Zeitraum. Wie sehen Sie das?
Mit den Erkenntnissen aus unserer Studie ist das nicht mehr zu rechtfertigen. Das ist ein Doping des Pferdes, auch wenn es das offiziell bei Stuten noch nicht ist. Meines Erachtens sollte dies aber diskutiert werden.
Sie haben untersucht, wie Pferde in einem Alter von 24 und 30 Monaten auf Stress durch Training reagieren. Die Ergebnisse sind deutlich.
Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Stressreaktion bei den 30 Monate alten Hengsten deutlich geringer ist. Bei den 24 Monate alten Hengsten ist es ein Mittelwert. Einige zeigten kaum Stressreaktionen, andere hatten einen hohen Cortisolwert. Bei den 30 Monate alten Hengsten gab es keinen Ausreißer nach oben.
Warum macht das halbe Jahr so einen großen Unterschied?
Eine gute Frage. Wichtig zu wissen ist, dass die Pferde aus ein und derselben Gruppe stammen. Der eine Teil ist im Juni von der Weide geholt worden, der andere ein halbes Jahr später. Die Pferde waren nur auf der Weide. In dem halben Jahr ist nichts mit ihnen gemacht worden. Vielmehr ist es ein reiner Alterseffekt, mit dem ich in dieser Ausprägung auch nicht gerechnet habe. Die Pferde scheinen in dieser Lebensphase zu reifen. Hengste werden in dieser Zeit zuchtfähig, wodurch sie selbstbewusster werden und womöglich weniger stressanfällig.
Wann entstehen typische Stresssituationen zu Trainingsbeginn?
Es sind die ersten Male: in der Führanlage, beim Longieren, beim Aufsitzen, beim Satteln. Hier ist ganz, ganz viel Kenntnis nötig. Eine professionelle Ausbildung der Menschen, die diese ersten Schritte begleiten, ist sehr viel wert. Sie legen die Basis für die Zukunft des Pferdes. Je mehr Ruhe und Professionalität herrschen, desto besser. Eine gute Reitanlage mit den entsprechenden Möglichkeiten sollte zudem gegeben sein. Es geht um das Risiko für Pferd und Mensch. Daher sollte es niemand machen, der nur meint, ein gutes Gespür zu haben. Es sollte einen guten Plan geben. Ein Blick über den Tellerrand schadet nie, aber es braucht einen Plan.
Jungpferde anreiten unter Tierschutzgesichtspunkten
Prof. Dr. Christine Aurich ist Leiterin der Klinik für Pferde in Wien und gleichzeitig Leiterin des Graf-Lehndorff-Instituts für Pferdewissenschaften in Neustadt. Dort betreut sie das Projekt „HorseWatch“, das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert wird. (© Privat)
Verstehen Sie die Diskussion um den Ausbildungsbeginn in Hinblick auf den Tierschutz?
Es machen sich heute viele Menschen Gedanken, die keinen Hintergrund zum Pferd haben. Die Diskussion wird von Tierrechtsorganisationen angeheizt. Zugleich sehe ich die Debatte als Chance, uns selbst zu hinterfragen und genau hinzusehen, ob das, was wir machen, noch in Ordnung ist. Wir müssen uns sachlich und ergebnisoffen fragen, was akzeptabel ist. Das machen wir Wissenschaftler und diesen Ergebnissen darf man glauben. Unsere Ergebnisse zeigen, dass unser jetziges Tun akzeptabel ist.
Worauf sollten die Menschen besonderes Augenmerk legen?
Es ist egal, nach welcher Reitweise ich mein Pferd ausbilde. Es ist auch unabhängig davon, welche Rasse mein Pferd hat. Die Grundbedürfnisse sind gleich. Die Kritik, der wir uns stellen müssen, gilt für alle. Nur weil man zum Beispiel gebisslos unterwegs ist, heißt es nicht, dass das Pferd keinen Stress haben wird. Anreiten ist für das Pferd eine stressige Situation, unabhängig davon, ob ich in den Wald oder Springen reiten möchte. Wir machen alle mehr oder weniger das Gleiche mit dem Pferd. Das muss man beachten.
Wir Reiter tun uns keinen Gefallen damit, wenn wir uns voneinander abgrenzen. Es geht vielmehr um die Freude am Pferd, die wir alle gemeinsam haben.