Der Spitzenreitsport hebt ab während die Basis bröckelt


Bild vergrößern Reiter im Spitzenreitsport springt bei Den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris über ein Hindernis.

Die Schere zwischen Profi-Reitsport und seiner Basis öffnet sich weiter. Hier zu sehen: Eine Momentaufnahme der Olympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Olympia ist noch immer das Aushängeschild des Sports. (© Stefan Lafrentz)

Reiter und Pferde, die um die ganze Welt jetten. Vierbeinige Top-Talente, die für Millionen den Besitzer wechseln. Preisgelder, die teils in die Höhe schießen. Der internationale Pferdesport ist längst in einer anderen Liga angekommen. Professioneller und globaler denn je. Auf der anderen Seite bröckelt die Basis. Tierschutzdebatten belasten eine komplette Branche. Wie viel Wandel verträgt der Reitsport?

Der Pferdesport ist im Wandel. Der Spitzenreitsport ist globaler geworden, professioneller, durchorganisierter. Gleichzeitig bröckelt vielerorts das Fundament: Reitvereine kämpfen ums Überleben, internationale Turniere mit teils langer Tradition verschwinden, der Zugang zu Pferden für Kinder und Jugendliche schrumpft. Während internationale Turnierserien neue Standards setzen, verlieren ländliche Veranstaltungen an Bedeutung. Wohin führt diese Entwicklung?

Zuschauer beim Hamburg Derby, einem Spitzenreitsport-Event

Etwa 95.000 Zuschauer besuchten insgesamt das Hamburger Derby 2025. Die Reiter lobten genau diesen Zuspruch.
Auf anderen Turnieren dieser Welt sind die Tribünen teils nur spärlich besetzt – das entgeht auch einem Top-Reiter nicht. (© Stefan Lafrentz)

Der Spitzenreitsport: In der Welt zu Hause

Der internationale Pferdesport steht heute auf einem ökonomischen Fundament, das sich vor zwei Jahrzehnten in dieser Form wohl kaum einer hätte vorstellen können. Nationale und kontinentale Turnierserien prägten damals noch das Bild. Inzwischen hat sich das System zu einem globalen Markt entwickelt.

Die notwendige Globalisierung des Pferdesports

Matthias Alexander Rath, selbst internationaler Dressurreiter und inzwischen Veranstalter großer Turniere wie Frankfurt, Donaueschingen und Hamburg, beschreibt diese Entwicklung als notwendig: „Wenn wir unsere Daseinsberechtigung langfristig unterstreichen wollen, dann geht das nur global.“ Für ihn ist die Öffnung zu neuen Märkten wie dem Nahen Osten oder Asien kein Bruch mit der Tradition, sondern eine logische Folge der Professionalisierung.

Dabei sagt er klar, es gehe hier nicht um PR für ein Land, sondern um die Förderung des Sports. „Das ist ein Unterschied.“ Rath betont jedoch auch, dass Vertrauen, partnerschaftlicher Umgang und transparente Kommunikation entscheidend seien.

Die Entkopplung von der Gesellschaft droht

Isabell Werth, vielfache Olympiasiegerin, teilt seine Einschätzung in Teilen. Auch sie erkennt an, dass der Sport sich internationalisieren muss – und wird –, wenn er bestehen will. Gleichzeitig betont sie aber auch die Herausforderung im ländlichen Bereich: „Der Zugang zum Pferd ist der Schlüssel für gesellschaftliches Verständnis.“ Ihre Sorge: Wenn Kinder und Jugendliche den Kontakt zu Pferden verlieren, verliert der Sport langfristig seine gesellschaftliche Verankerung.

Nisse Lüneburg ist Mitte 30 und internationaler Springreiter aus Schleswig-Holstein, er hat schon einige internationale Erfolge feiern können und sich vor knapp zwei Jahren selbstständig gemacht. Er beobachtet die Veränderung der Turnierlandschaft. Er spricht von den Ausnahme-Veranstaltungen wie etwa dem Hamburger Derby, bei dem er selbst schon von Tausenden von Zuschauern frenetisch gefeiert wurde, aber auch von Traditionsturnieren, die vom Bildschirm verschwunden sind, weil Kosten und Aufwand zu hoch wurden und meist die Corona-Pandemie wie ein Brennglas die Situation verschärft hat.

Traditionsturnier in Nörten-Hardenberg

Das Traditionsturnier in Nörten-Hardenberg ist Geschichte, die letzte Siegerin hieß Finja Bormann. 2019 hielt sie die
Trophäe mit dem Goldenen Keiler empor. (© Stefan Lafrentz)

Der internationale Turnierkalender ist voll

Und er spricht von den erstklassig aufgestellten Reitsportzentren wie Peelbergen in den Niederlanden oder Riesenbeck im Münsterland, wo Ludger Beerbaum mit seinem Team einen Turnierstandort nach höchsten funktionalen Standards für Pferde, Pfleger und Reiter aufgebaut hat – für Championate und Late-Entrys gleichermaßen. Standorte, wo Reiter nahezu jede Woche eine Startmöglichkeit haben, um ihre Pferde Erfahrung sammeln zu lassen – und sich zu vermarkten: „Da haben wir Top-Bedingungen und wir brauchen solche Turniere. Aber manchmal fehlt die Gänsehaut“, sagt Nisse Lüneburg. „Natürlich macht dieser Sport vor vielen Zuschauern auch uns Reitern mehr Spaß!“

Reiter unterhalten sich auf dem Turnier in Hohen Wieschendorf

Neue Turniere entstehen, Hohen Wieschendorf ist ein prominentes Beispiel. Top-Reiter fahren an die Ostsee,
weil die Bedingungen aus sportlicher Sicht brillant sind. (© Stefan Lafrentz)

Eine weitere Entwicklung: Die immense Anzahl an Fünf-Sterne-Turnieren, die den internationalen Turnierkalender prägt. Mehr als 100 Springturnier dieses Levels sind es mittlerweile im Jahr: Teilweise findet eine ganze Handvoll an einem Wochenende statt – da stellt sich die Frage: Was sind fünf Sterne heute noch wert? Und: Wer bezahlt das alles?

Unter Beobachtung: Neue Geldgeber im Spitzenreitsport

Der Spitzenreitsport ist ohne internationale Finanzierung und Struktur kaum mehr denkbar. Oder wie Ludger Beerbaum es einmal in einem Interview formulierte: „Ohne Menschen, die verrückt genug sind, in diesen Sport zu investieren.“ Mit der zunehmenden Internationalisierung des Reitsports hat sich die Landkarte der Geldgeber verschoben.

Während früher Banken, Versicherungen oder nationale Unternehmen die wichtigsten Sponsoren waren, treten heute zunehmend private Mäzene, Investoren und Firmen aus aller Welt auf. Aktuelles Beispiel: Al Shira’aa Stables, ein arabischer Sponsor mit Hauptsitz in Abu Dhabi, einem Zucht– und Trainingszentrum in Großbritannien sowie Ställen in Deutschland, Irland und Spanien. Hinter dem Namen Al Shira’aa steckt Sheikha Fatima bint Hazza bin Zayed Al Nahyan, sie gehört zur Herrscherfamilie der Vereinigten Arabischen Emirate.

Sponsoring aus Abu Dhabi

Inzwischen tritt Al Shira’aa als Titelsponsor bei renommierten Veranstaltungen wie dem Turnier der Sieger in Münster, dem Deutschen Spring- und Dressurderby sowie den Bundeschampionaten in Warendorf auf. Genauso wie beim Hickstead Derby in England und für nur kurze Zeit als Titelsponsor des Falsterbo Derbys in Schweden. Bei letzterem wurde die Partnerschaft nach wenigen Wochen der Bekanntgabe aufgehoben, weil es Proteste gegen dieses Titelsponsoring gab und teils heftige Drohungen gegen die Sponsorin persönlich.

Matthias Rath, der in diesem Jahr erstmals das Derby in Hamburg – nach der fast 25 Jahre andauernden und sehr erfolgreichen Ära mit Volker Wulff als Turnierchef – verantwortet, begrüßt hingegen das Engagement aus Abu Dhabi ausdrücklich: „Ohne solche Partner ist Spitzensport in dieser Qualität kaum noch möglich.“

Rennauto im Parcours eines Reitturniers

Wenn der Sportflitzer im Parcours steht… Das tut er nicht mehr nur bei Turnieren wie hier in Doha. In diesem Jahr auch bei
einem der wichtigsten Turniere für Nachwuchsreiter, dem Preis der Besten in Warendorf. (© Stefan Lafrentz)

Betreibt Al Shira’aa mit dem Spitzenreitsport Sportwashing?

Doch das Engagement ist nicht unumstritten. Kritiker verweisen auf die Nähe zur Herrscherfamilie von Abu Dhabi, auf die Menschenrechtslage in den Vereinigten Arabischen Emiraten – und erheben den Vorwurf des „Sportwashings“. Al Shira’aa selbst betont auf der eigenen Website stets den rein sportlichen und züchterischen Fokus ihres Engagements.

Auf Veranstaltungen ist die Sponsorin nicht zu sehen, einzig beim Turnier der Sieger soll sie unter Hochsicherheitsvorkehrungen im VIP-Bereich einmal zugegen gewesen sein. Es wäre spannend zu hören, was sie bewegt, sich nun so stark für den Reitsport in Deutschland und Europa einzusetzen.

Olympia und der Wert des Reitsports

Wenn man auf die Spitze des sportliches Eisbergs blickt, kommt man an den Olympischen Spielen nicht vorbei. Sie sind das Schaufenster des Sports, und somit auch des Reitsports – in Paris 2024 waren sie genau das. Zugleich sind sie eine der größten Herausforderungen. Zum olympischen Zyklus gehört für Reitsportverbände mittlerweile dazu, den Wert des Reitsports und des Pferdes noch deutlicher hervorzuheben.

Ebenso den inklusiven Charakter mit gleichberechtigter Teilnahme beider Geschlechter oder die enge Partnerschaft zwischen Mensch und Tier. Denn Dressur, Springen und Vielseitigkeit sind als olympische Disziplinen längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Jede Tierschutzdebatte, jeder schwere Sturz gießt Öl ins Feuer derer, die den Reitsport aus dem olympischen Programm schmeißen möchten.

Pferd blutet wegen der Sporen des Reiters

Bei Blut am Pferd gilt im internationalen Turniersport die Nulltoleranz. Eine klare, transparente Regel. Dennoch gibt es Forderungen, diese aufzuweichen, etwa vom Internationalen Springreiter-Club. Nur, zu welchem Preis? (© Stefan Lafrentz)

Dabei ist Olympia nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich elementar – auch hierzulande. Der Spitzenreitsport in Deutschland ist ausgerichtet auf Olympia. Rund 3,5 Millionen Euro fließen jährlich vom Bundesministerium des Innern in den Reitsport – allerdings zweckgebunden, auf Basis klar definierter Einsatzpläne und Medaillenerwartungen.

Die Macht der Bilder im Spitzenreitsport

Kaum ein Thema hat den Reitsport in den vergangenen Jahren so intensiv beschäftigt wie das Pferdewohl, Stichwort „Social License“. Die Öffentlichkeit ist sensibilisiert, Social Media verbreitet Bilder in Sekundenschnelle – oft ohne Kontext, aber mit großer Wirkung.

Debatte statt Pauschalkritik

Isabell Werth erlebt das hautnah, verteidigt die Prinzipien des Leistungssports und lehnt Pauschalkritik ab. Ihre Position: Pferdegerechte Ausbildung ist Voraussetzung für sportlichen Erfolg – aber sie braucht Fachwissen, Geduld und Fehlerkultur. Auch Matthias Rath sieht in der gesellschaftlichen Debatte über Pferdewohl eine Chance, allerdings mit klaren Grenzen. Die ständige mediale Präsenz schaffe ein verzerrtes Bild: „Es ist halt nicht jeder Ritt und nicht jede Trainingseinheit perfekt.“

Seine Forderung: Transparenz, aber mit Augenmaß. Er sieht die Lösung vielmehr in Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit. Springreiter Nisse Lüneburg sagt: „Es gibt Situationen, die dürfen nicht passieren. Aber viele Menschen haben den Bezug zum Pferd verloren und können nicht mehr einordnen, was sie sehen.“ Er plädiert für einen offenen, respektvollen Dialog und für mehr Sichtbarkeit für die tägliche Arbeit mit den Pferden. Die Diskussionen um das Pferdewohl sind ein zentrales Kriterium für die Zukunftsfähigkeit des Sports. Allesamt stehen vor der Aufgabe, hier eine neue Balance zu schaffen.

Ein Pferd hat im internationalen Spitzenreitsport ein scharfes Gebiss im Maul

Gebisskonstruktionen wie diese gehören im internationalen Springsport zum gewohnten Bild. Studien belegen jedoch längst,
wie empfindlich die Strukturen im Kopf- und Maulbereich des Pferdes sind – und wie hoch das Risiko von Verletzungen bei
unsachgemäßer Verwendung oder übermäßiger Einwirkung ist. (© Stefan Lafrentz)

Neue Initiativen für einen tierfreundlicheren Pferdesport

Dabei könnten die in den vergangenen zwei Jahren entstandenen, teils unterschiedlich agierenden Initiativen, die sich das Thema „Pferdewohl“ auf die Fahne geschrieben haben, eine Rolle spielen. Dazu zählt unter anderem die Bewegung #doitride, die das Bewusstsein für mehr Pferdewohl stärken möchte und dabei vor allem auf Dialog und Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen setzt.

Oder die Initiative „Vielfalt Pferd“, die den Wert des Pferdes und den respektvollen Umgang mit diesem unterstreicht und vor allem dafür sorgen möchte, dass jeder Reiter und Pferdebesitzer Zugang zum Pferd ermöglichen kann. Da ist die Initiative „R-haltenswert“, die den ethischen Umgang mit Pferden definieren möchte. Und der Scientist Circle des CHIO Aachen, der Veterinärmediziner, Ethologen und Sportwissenschaftler zusammenbringt, um wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über das Pferdewohl im Turniersport zu erarbeiten.

Diese Initiativen eint der Anspruch, über den eigenen Stall hinaus zu denken – und Lösungen zu entwickeln, die den Reitsport gesellschaftlich anschlussfähig halten. Kritiker bemängeln teils die Nähe zu bestimmten Ausbildungsströmungen und eine teils einseitige, zu radikale Erzählweise. Dennoch: Differenziert und offen über Verantwortung zu sprechen ist heute wichtiger denn je.

Vereine unter Druck

Während die internationale Spitze sich professionalisiert, schrumpft vielerorts die Basis. Reitvereine in ländlichen Regionen haben Schwierigkeiten, Turniere auszurichten. Das ehrenamtliche Engagement nimmt immer weiter ab, gleichzeitig steigen die Anforderungen an Infrastruktur, Sicherheit und Organisation. Der Anspruch seitens der Reiter ist gestiegen – und das Ehrenamt nicht mitgewachsen. Viele ehemalige Traditionsstandorte in Deutschland sind so aus dem Turnierkalender verschwunden.

Dabei sei es aus Sicht vieler Profis ein Irrtum, die Verantwortung allein an Veranstalter oder Verbände abzugeben. Nisse Lüneburg beispielsweise ist überzeugt: „Manchmal reicht schon ein ehrliches Lob – und das kostet nichts.“ Gemeint ist die Anerkennung derer, die ein Turnier am Laufen halten: die Ehrenämtler. Auch Werth und Rath sehen Handlungsbedarf und wünschen sich gezielte Hilfe, Nachwuchsförderung und besserer Ausbildung für Reiter und Trainer.

Mädchen springt auf ihrem Pferd freihändig über ein Hindernis

Das Fundament des Spitzensports ist und bleibt die Basis. Reitschulen, Reitvereine und Ausbilder tragen eine große
Verantwortung für die Zukunft – doch sie stehen vor großen Herausforderungen. Eine davon ist der immense Kostendruck,
denn Sponsoren gibt es hier meist nicht. (© Stefan Lafrentz)

Pferdesport mit Alarmismus oder Haltung?

Die Globalisierung hat den Spitzenreitsport auf ein neues Niveau gehoben, finanziell wie sportlich. Gleichzeitig steht er vor enormen Herausforderungen. Doch es gibt konstruktive Ansätze, bei denen Reiter, Veranstalter und Verbände intensiver zusammenzuarbeiten scheinen als früher. Neue Plattformen und Projekte, die auf Transparenz und Aufklärung setzen. Der Reitsport beginnt, sich selbst zu hinterfragen. Entscheidend wird sein, diese Entwicklung zu verstetigen – nicht mit Alarmismus, sondern mit Haltung. Wie wird das neue Normal aussehen?

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